Erdbeben in Istanbul: Warum ist die Türkei so gefährdet?
Veröffentlicht 2. November 2020Zuletzt aktualisiert 24. April 2025
Das jüngste Beben hat zwar keinen größeren Schaden angerichtet – aber die Angst vor einer sehr wahrscheinlichen Katastrophe befeuert. Nach den Erdbeben in Istanbul steht die Bevölkerung weiter unter Schock.
Laut Seismologen war das Erdbeben der Stärke 6,2 das Schwerste in der Region seit über 25 Jahren. Es ereignete sich laut dem Potsdamer Helmholtz-Zentrum für Geoforschung (GFZ) in einer Tiefe von rund zehn Kilometern, etwa 60 Kilometer westlich von Istanbul im Marmarameer.
Im Februar 2023 waren bei einem starken Erdbeben im Südosten der Türkei nahe der syrischen Grenze tausende Menschen gestorben, zehntausende wurden verletzt.
Dynamisches Puzzle in der Erdkruste
Die Türkei liegt in einer der seismisch aktivsten Gegenden der Welt. Doch warum? Dazu muss man wissen, dass die Erdkruste eine Art Puzzle ist - allerdings ein relativ dynamisches, das aus vielen Einzelteilen besteht: aus ein paar gigantischen ozeanischen Platten und mehreren kleinen kontinentalen Krustenplatten. Wie viele kleine und kleinste Erdplatten es tatsächlich gibt, ist in der Wissenschaft umstritten.
Klar ist aber, dass diese Platten stetig einige Zentimeter im Jahr wandern. Das ist ganz normal. Sie bewegen sich entweder voneinander weg, reiben aneinander oder schieben sich auch mal untereinander. Dann bewegt sich der darüber liegende Kontinent. Diese Bewegungen heißen Plattentektonik.
"Die Frage ist nicht, ob ein Erdbeben kommt, sondern wann"
Die Türkei ist für Erdbebenforschende höchst interessant. Das Deutsche Geoforschungszentrum in Potsdam hat seit den 1980er Jahren Messgeräte in der Türkei installiert und seismische Überwachungen durchgeführt. Diese zeigen, dass das Risiko für Erdbeben in der gesamten Region um das Marmarameer, an dessen Küste Istanbul liegt, besonders hoch ist.
"Die Frage ist nicht, ob ein Erdbeben kommen wird. Die Frage ist, wann es kommen wird", sagte Marco Bohnhoff, Seismologe vom GFZ und Kenner der Region, dazu bereits 2019.
Diese Abschätzung leiten Bohnhoff und andere Fachleute aus dem Auftreten von mehreren Starkbeben im Verlauf der Geschichte Istanbuls ab, aus der andauernden Kontinentalverschiebung unterhalb des Marmarameeres und aus der Tatsache, dass direkt vor den Toren Istanbuls ein Bereich der Erdbebenzone liegt, der schon lange verdächtig ruhig ist.
"Vieles deutet darauf hin, dass dieser Bereich gegenwärtig und schon seit langem verhakt ist. Dabei bauen sich dann Spannungen auf, die irgendwann die Festigkeit des Gesteins überschreiten und ruckartig durch einen Versatz beider Erdplatten um mehrere Meter innerhalb von Sekunden abgebaut werden", sagte der Seismologe im Gespräch mit der Wissensplattform ESKP (Earth System Knowledge Platform).
Bausubstanz und Untergrund entscheidend für Erdbebensicherheit
Die eigentliche Gefahr für Gebäude, Infrastruktur und die örtliche Bevölkerung stellen die entstehenden Erdbebenwellen dar. Es sei also nicht die Frage des "Ob", so Bohnhoff, sondern die des "Wie stark?" und des "Wann?".
Obwohl Experten seit Jahrzehnten vor einem großen Erdbeben warnen, gilt die Metropole am Bosporus nicht als erdbebensicher. Zwar wurde in den vergangenen Jahren auch vor dem Hintergrund der verheerenden Erdbebenkatastrophe im Südosten des Landes 2023 Programme zur Erneuerung gefährdeter Gebäude vorangetrieben. Mehr als eine Million Gebäude gelten aber immer noch als nicht sicher.
Denn eine erdbebensichere Bauweise sei leider sehr teuer, sagte der Seismologe. Es stelle sich die Frage, was die bessere Alternative sei: neu zu bauen oder nachzurüsten.
"Auf Fotos kann man sehen, dass einige der eingestürzten Gebäude möglicherweise erbaut wurden, bevor die modernen Vorschriften zur Erdbebensicherheit in Kraft traten. Für ein Beben dieser Stärke waren sie nicht ausgelegt", sagt Mehdi Kashani, außerordentlicher Professor für bauliches- und Erdbeben-Ingenieurswesen an der University of Southampton in Großbritannien.
"Die Kombination aus enormer Stärke und einem Auftreten relativ dicht unter der Erdoberfläche hat diesem Erdbeben eine große zerstörerische Kraft gegeben. Wir müssen die eingestürzten Gebäude genau untersuchen und von diesem schrecklichen Ereignis lernen. Nur so können wir unsere Gebäude und Städte in Zukunft erdbebensicher machen", so der Experte.
Doch nicht nur der Baubestand, auch der Untergrund spielt eine nicht unerhebliche Rolle. Grundsätzlich gelte: Je fester desto besser. "Am besten ist es, wenn der Untergrund aus Granit besteht. Anders ist es, wenn der Untergrund aus trockengelegten Sedimenten wie Sand oder Ton besteht", sagte Bohnhoff.
Auf weichem Untergrund könne es eher zu Verstärkungen der Bodenbewegungen kommen, teilweise zusammen mit Verflüssigungseffekten, der sogenannten "liquefaction". Diesen Mechanismus vergleicht der Seismologe mit feuchtem Sand am Strand. Wenn man wiederholt auf dieselbe Stelle im Sand tippt, sammelt sich dort Wasser. "Dann wird der Untergrund instabil."
Anmerkung der Redaktion:
Dieser Artikel erschien ursprünglich am 2. November 2020. Er wurde zuletzt am 24.04.2025 aktualisiert.