1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Erdogan: Erster Sultan der modernen Türkei

8. Juli 2018

Am Montag tritt in der Türkei das Präsidialsystem in Kraft. Damit erhält Staatschef Recep Tayyip Erdogan Befugnisse wie kein anderer politischer Führer in der Türkei vor ihm. Kurz vorher gab es erneut Massenentlassungen.

Wahlen Türkei - Erdogan erklärt sich zum Sieger
Recep Tayyip ErdoganBild: picture alliance/AP Photo/L. Pitarakis

Die Türkei wird offiziell vom parlamentarischen System zum Präsidialsystem übergehen, wenn Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan seinen Amtseid im Parlament ablegt. Noch am Sonntag hatte er per Erlass mehr als 18.600 Staatsbedienstete entlassen, darunter fast 9000 Polizisten, rund 6000 Angehörige der Streitkräfte und 199 Akademiker. Es ist vermutlich der letzte Erlass, bevor der Ausnahmezustand aufgehoben wird, der nach dem Putschversuch im Juli 2016 verhängt worden war. Das könnte nach der Vereidigung Erdogans am Montag erfolgen.

Gerade einmal 13 Jahre sind vergangen, seit die AKP, deren Gründer und Chef Erdogan ist, mit der Unterstützung der Bevölkerung die Beitrittsverhandlungen mit der EU begonnen hatte. Damals schien es, als seien Demokratie, Meinungsfreiheit und gesellschaftlicher Frieden auf dem Vormarsch. Jetzt aber schickt sich die Türkei an, seinen mit den Jahren immer islamistischeren, nationalistischeren und autoritäreren Präsidenten mit einer bislang beispiellosen Machtfülle auszustatten. Er erhält durch die Abschaffung der parlamentarischen Kontrollfunktion die alleinige Verfügungsgewalt über die Exekutive. Und durch seine Befugnis, die wichtigsten Mitglieder des Justizapparats selbst zu bestimmen, wird er auch die Gerichtsbarkeit kontrollieren.

Kein Vergleich mit Frankreich und den USA

Ersin Kalaycioglu vom Politischen Zentrum der Sabanci-Universität Istanbul weist darauf hin, dass noch nicht ganz klar sei, wie genau sich das System ändern wird: "Bislang wurde das neue System nur in Grundzügen mit uns diskutiert. Daher kennen weder die Öffentlichkeit noch die Wissenschaftler die genauen Details", so Kalaycioglu.

Immer wieder betonte Erdogan, dass auch andere wichtige Demokratien ein Präsidialsystem besitzen. Allerdings unterscheidet sich das neue System der Türkei deutlich etwa vom Präsidialsystem in den USA und dem semipräsidentiellen Regierungssystem in Frankreich. So hat in den USA der Präsident nicht die Befugnis, den Kongress aufzulösen. Erdogan hingegen kann das Parlament auflösen und Wahlen ausrufen. In Frankreich bestimmt das Parlament die Mitglieder des Verfassungsgerichts. In der Türkei hingegen trifft der Präsident die Entscheidungen, die das hohe Gericht betreffen.

Erdogans Anhänger feiern seinen SiegBild: picture alliance/AA/M. Dermencioglu

Ersin Kalaycioglu macht auf die autokratischen Züge des Präsidialsystems in der Türkei aufmerksam. "Sowohl im US-amerikanischen als auch im französischen System gibt es eine ausgeprägte Zivilgesellschaft. Bei uns gibt es diese nicht." Auch kann Erdogan in Zukunft regulär mit präsidentiellen Dekreten operieren. Bislang durfte er das nur unter den Regelungen des noch immer geltenden Ausnahmezustands. Damit kann Erdogan die Judikative jederzeit aushebeln. Ein Präsidialsystem, das unter einer unabhängigen und unparteiischen Justiz agiert, sei daher so gut wie unmöglich. Der Politikwissenschaftler Dogu Ergil teilt die Befürchtungen seines Kollegen Kalaycioglu. Die für eine Demokratie so wichtige Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz seien faktisch aufgehoben, so Ergil.

Ultranationalismus als Gefahr

Offen ist auch die Frage, ob die Allianz, die Erdogan bei den Wahlen am 24. Juni mit der nationalistischen MHP eingegangen ist, die Anspannung im Land steigern wird. Viele befürchten, dass die harte Haltung der MHP besonders in der Kurdenfrage und ihre Ablehnung einiger demokratischer Werte eine noch nationalistischere Atmosphäre in der Türkei schaffen könnten. Erdogan braucht die MHP für eine Mehrheit im Parlament. Das könnte das größte Hindernis darstellen für eine friedliche Lösung des Kurdenproblems und für die Annäherung der Türkei an die Normen der Europäischen Union. 

Die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei stehen im Moment unter keinem guten Stern Bild: AP

Im Zentrum des Interesses steht auch die Frage, wie sich die Beziehungen zum Westen entwickeln werden. 1999 stellte die Türkei einen offiziellen Antrag auf Mitgliedschaft in der EU, am 3. Oktober 2005 begannen die Verhandlungen zur Mitgliedschaft. In den vergangenen 13 Jahren wurden allerdings keine großen Fortschritte erzielt. Mit dem Beginn des Ausnahmezustands vor zwei Jahren wurden die Verhandlungen de facto gestoppt. Kati Piri, Türkei-Berichterstatterin des EU-Parlaments, sprach sich gegenüber der DW für eine offizielle Aussetzung der Beitrittsverhandlungen aus.

Während die EU-Türkei-Beziehungen Gefahr laufen, gänzlich auf Eis gelegt zu werden, erlebt auch das Verhältnis zu den USA eine der schwersten Phasen in der Geschichte. Gleich mehrere Streitpunkte belasten die Beziehungen beider Länder: Der von Erdogan als Drahtzieher des Putschversuchs von 2015 bezichtigte Fetullah Gülen lebt in den USA. Washington arbeitet in Syrien mit der kurdischen YPG zusammen, die von der Türkei als Terrororganisation betrachtet wird. Und die Türkei beabsichtigt trotz Widerspruchs der NATO russische S-400-Raketen zu kaufen. All das hat die Beziehungen zwischen den USA und der Türkei in eine Sackgasse geführt.

Dogu Ergil weist in diesem Zusammenhang auf die jüngsten Meinungsumfragen in der Türkei hin: Demnach seien die USA in der Türkei unbeliebter als im Iran. In der Gesellschaft breite sich eine immer USA- und EU- feindlichere Haltung aus, so Ergil - auch unabhängig von der Politik Erdogans. 

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen

Mehr zum Thema