Am Jahrestag des Putschversuches in der Türkei hat Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan erneut angekündigt, die Todesstrafe wieder einführen zu wollen. In der Nacht wird das Gedenken weiter inszeniert.
Anzeige
Bei einer Gedenkveranstaltung an einer Bosporusbrücke in Istanbul (Artikelbild) sagte Erdogan, er würde ein entsprechendes Gesetz unterschreiben, wenn das Parlament es verabschieden würde. Zuvor hatte die Menge in Sprechchören die Wiedereinführung der Todesstrafe verlangt.
Der Präsident hatte einen solchen Schritt in der Vergangenheit mehrfach ins Gespräch gebracht. Kurz nach seinem Sieg beim Verfassungsreferendum vor drei Monaten war das Thema aber wieder von der Tagesordnung verschwunden.
Bei seiner Rede vor - Medienberichten zufolge - hunderttausenden Anhängern brachte er seine Abscheu gegen die Putschisten zum Ausdruck. "Wir werden diesen Verrätern den Kopf abreißen", kündigte der Präsident ein erbarmungsloses Vorgehen gegen die Verantwortlichen des Putsches an. Die inhaftierten Drahtzieher sollten "Uniformen wie in Guantanamo" tragen, schlug er vor. Damit spielte er auf das umstrittene US-Gefangenenlager an, in dem Terrorverdächtige festgehalten wurden und werden.
Landesweite Feierlichkeiten
In der ganzen Türkei wird am Wochenende an den gescheiterten Putsch gegen den Präsidenten vor einem Jahr erinnert. Am Abend des 15. Juli 2016 hatte eine Gruppe Militärs versucht, die Macht in der Türkei zu übernehmen. Der Umsturzversuch scheiterte am Widerstand der Bevölkerung.
Bei der Veranstaltung an der Bosporusbrücke - die umbenannt wurde in "Brücke der Märtyrer des 15. Juli" - hat Erdogan ein Denkmal für die 249 Opfer auf Seiten der Putschgegner enthüllt. Fotos der Getöteten wurden auf Bildschirmen gezeigt und ihre Namen wurden verlesen. Soldaten hatten die Brücke vor einem Jahr mit Panzern abgesperrt. Plakate mit Szenen aus der Putschnacht riefen die Türken nun dazu auf, kurz nach Mitternacht zu "Demokratiewachen" auf die Straße zu kommen.
Nach seinem Auftritt in Istanbul flog Erdogan nach Ankara. Dort hielt er in der Nacht noch eine Ansprache vor dem Parlament. Um 2.32 Uhr Ortszeit hatten Putschisten vor einem Jahr das Gebäude bombardiert. Die beiden größten Oppositionsparteien - die CHP und die HDP - hatten angekündigt, an der Veranstaltung nicht teilzunehmen.
Opposition beklagt Weg in Autokratie
Am Nachmittag erschienen aber beide Parteien zu der Sondersitzung des Parlaments, das vor einem Jahr unter massiven Beschuss geriet. Kemal Kilicdaroglu, Vorsitzender der CHP, warf der Regierung vor, die Aufarbeitung der Putschereignisse und -hintergründe zu behindern. "Die Justiz wurde zerstört", beklagte Kilicdaroglu im Parlament. Alle Rechtsabläufe hätten sich im vergangenen Jahr immer weiter vom gesetzlichen Rahmen entfernt. Unter dem Vorwand der Putschistenverfolgung würde die Regierung ihre Gegner ausschalten.
Die Putschnacht in der Türkei und ihre Folgen
Vor einem Jahr wollten Putschisten den türkischen Präsidenten Erdogan stürzen. Das Vorhaben ging schief. Stattdessen ist Erdogan mächtig wie nie. Eindrücke aus der Putschnacht und der Zeit danach.
Bild: picture-alliance/dpa/S. Suna
Der Beginn
Es sind die ersten Bilder, die am Abend des 15. Juli 2016 aus der Türkei kommen: Panzer des Militärs blockieren die Bosporus-Brücke in Istanbul. Nach und nach wird klar, dass Teile des Militärs einen Putsch starten. Schüsse fallen, es gibt Verletzte. Am Nachthimmel sind Kampfjets und Helikopter zu hören.
Bild: picture-alliance/abaca/F. Uludaglar
Panzer am Flughafen
Ein ähnliches Bild am Atatürk-Flughafen in Istanbul: Panzer sind vorgefahren. Zudem haben Umstürzler den Tower besetzt und den Flugverkehr gestoppt. Noch stellen sich nur vereinzelt Menschen den Putschisten entgegen.
Bild: Reuters/Ihlas
Parlament unter Beschuss
Auch das Parlament in Ankara wird zum Ziel. Um genau 02:32 Uhr Ortszeit wird die Große Nationalversammlung aus der Luft bombardiert. Die Putschisten haben mehrere F16-Kampfflugzeuge in ihre Gewalt gebracht.
Bild: Getty Images/AFP/A. Altan
Die Opfer
Bei Gefechten und Zusammenstößen werden nach offiziellen Angaben 249 Menschen getötet und mehr als 2000 verletzt. Sie werden mittlerweile als "Märtyrer" gefeiert.
Bild: Getty Images/B.Kilic
Der Widerstand
Noch in der Nacht deutet sich an, dass der Putsch erfolglos sein wird. Wie hier auf dem Taksim Platz in Istanbul werden Soldaten von Polizisten oder anderen Armeeangehörigen festgenommen.
Bild: picture-alliance/dpa/S. Suna
Erdogan zeigt sich
Auf ungewöhnlichem Wege präsentiert sich Präsident Erdogan der Bevölkerung. Per Videoschalte auf ein Handy, das eine Fernsehmoderatorin in die Kamera hält, zeigt er sich den Türken und appelliert: "Ich rufe unser Volk auf, sich auf den Plätzen und am Flughafen zu versammeln." Spekulationen über eine Absetzung tritt Erdogan mit dem Auftritt entgegen.
Bild: Screenshot/CNN Turk/Reuters
Menschen auf den Straßen
Viele Türken folgen dem Aufruf ihres Präsidenten. Sie strömen auf die Straßen, stellen sich den Putschisten entgegen und sorgen somit dafür, dass der Umsturz ausbleibt. So wie hier in Ankara klettern die Menschen auf Panzer und schwenken türkische Fahnen.
Bild: picture-alliance/abaca/O. Gurdogan
Racheakte
Am Morgen danach sind die Putschisten fast überall zurückgedrängt. Nur vereinzelt kommt es noch zu Kämpfen. Jetzt wird gegen die Anhänger des Militärcoups vorgegangen.
Bild: Reuters
Suche nach Putschisten
Die Sicherheitskräfte machen Jagd auf die Anhänger der Putschisten. Es kommt zu Festnahmen.
Bild: picture-alliance/AA
Angeblicher Drahtzieher
Er soll hinter dem versuchten Umsturz stecken: der Prediger Fethullah Gülen. Die türkische Führung macht ihn als Verantwortlichen aus. Gülen selbst bestreitet das. Er lebt seit Jahren in den USA und wird nicht an die Türkei ausgeliefert.
Bild: Reuters/C. Mostoller
Siegesfeiern
24 Stunden nach der Revolte zeigt sich ein ganz anderes Bild: Tausende Menschen feiern auf der Bosporus-Brücke den Sieg über die Putschisten. Ihr Name wird später in "Brücke der Märtyrer des 15. Juli" geändert.
Bild: picture-alliance/abaca/E. Öztürk
Ausnahmezustand
Fünf Tage nach dem Putschversuch ruft Erdogan den Ausnahmezustand aus, der am nächsten Tag in Kraft tritt. Der Präsident hat dadurch erheblich mehr Befugnisse. Zudem wird über die Wiedereinführung der Todesstrafe debattiert. Auch ein Jahr später gilt weiterhin der Ausnahmezustand.
Bild: Reuters/K. Ozer
Säuberungen
Direkt nach dem Putschversuch spricht Erdogan von einem "Segen Gottes". Ziel sei es, "dass unsere Streitkräfte, die vollkommen rein sein müssen, gesäubert werden". Doch es trifft nicht nur Gülen-Anhänger in der Armee. Auch Journalisten, Wissenschaftler und andere Erdogan-Gegner geraten ins Visier. Insgesamt werden mehr als 100.000 Staatsbedienstete entlassen, mehr als 50.000 Menschen inhaftiert.
Bild: picture-alliance/AA/A. Mehmet
Erdogan baut seine Macht aus
Vor dem Putsch war es Erdogan nicht gelungen, sein favorisiertes Präsidialsystem in der Türkei einzuführen. Den Aufstand nutzt er als Steilvorlage für ein System mit einem starken Mann an der Spitze. Mitte April 2017 ist Erdogan am Ziel. Die Türken stimmen im Verfassungsreferendum mit knapper Mehrheit für das neue Staatskonstrukt.
Bild: Reuters/H. Aldemir
Die Opposition
Die türkische Opposition wird nach dem Putschversuch geschwächt - vor allem die pro-kurdische HDP. Die beiden Vorsitzenden und neun weitere Abgeordnete werden im November 2016 verhaftet. Um die größte Oppositionspartei CHP ist es lange Zeit still. Im Sommer 2017 hält sie aber wieder Massenkundgebungen ab.
Bild: Getty Images/AFP/Y. Akgul
15 Bilder1 | 15
Der stellvertretende Chef der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP, Ahmet Yildirim, kritisierte unter anderem die Massenentlassungen und die Inhaftierungen von HDP-Abgeordneten. Er beschuldigte Erdogans AKP, einen "zweiten Putsch" durchgeführt zu haben.
Schuldfrage ungeklärt
Erdogan wirft dem in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen vor, der Drahtzieher des Putschversuchs gewesen zu sein. Dieser hat die Vorwürfe zurückgewiesen. Dennoch wurden wegen mutmaßlicher Kontakte zur Gülen-Bewegung in den vergangenen zwölf Monaten in der Türkei rund 50.000 Menschen festgenommen und rund 150.000 Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, der Justiz, der Polizei und des Militärs entlassen oder vom Dienst suspendiert.
Regierungschef Binali Yildirim sagte bei der Sondersitzung vor den Abgeordneten über den 15. Juli 2015, dass "aus der dunkelsten Nacht die Nacht der Helden wurde". Die Türkei habe an diesem Tag einen "zweiten Unabhängigkeitskrieg" gewonnen. Yildirim bezog sich mit seiner Ansprache auf den Krieg nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs, aus dem 1923 die Türkische Republik hervorgegangen war.