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Erdogan im Vorwahlkampf

Senada Sokollu12. Mai 2014

Im Sommer wird in der Türkei zum ersten Mal der Präsident direkt vom Volk gewählt. Premierminister Erdogan wird wahrscheinlich kandidieren. Beobachter befürchten, dass Erdogan das Regierungssystem umkrempeln will.

Recep Tayyip Erdogan (Foto: REUTERS/Umit Bektas)
Bild: Reuters

Nur wenige Wochen vor dem Jahrestag (28.05.2014) des Beginns der Proteste rund um den Istanbuler Gezi Park, begann letzte Woche die erste Anhörung gegen 255 Regierungskritiker, die aktiv an den Massendemonstrationen gegen die türkische Regierung teilgenommen haben. Darunter befinden sich auch sieben Ausländer. Die Angeklagten werden unter anderem der Verletzung des Demonstrationsrechts, der Beschädigung von Kultstätten sowie der Verletzung von Zivilisten beschuldigt.

Viele fühlen sich vom Staat ungerecht behandelt. "Mit vier Freunden habe ich mich am Taksim-Platz getroffen. Dann hat uns plötzlich die Polizei verhaftet. Wir wussten nicht, was mit uns geschieht. Ich bin nicht schuldig und fordere Freispruch", sagte der angeklagte Grafikdesigner Seckin Cebeci gegenüber dem Sender CNN Turk. Auch der Kameramann Görkem Celiloglu fühlt sich zu unrecht beschuldigt. "Ich habe mich mit meiner Kamera zwischen einer Gruppe Demonstranten bewegt. Als die Polizei plötzlich Tränengas einsetzte, lief die Gruppe davon, und ich stand allein da. Dann wurde ich festgenommen. Das ist nicht rechtens", so Celiloglu.

Der Zeitpunkt der Gerichtsverhandlungen sei kein Zufall, findet Fethi Acikel, Politikwissenschaftler der Universität Ankara. "Recep Tayyip Erdogan will kurz vor den Präsidentschaftswahlen im August seinen autoritären Regierungsstil präsentieren. Seit Beginn der Proteste verfolgt er eine Freund-Feind-Strategie." Erdogan spalte das Land. "Er versucht, seine Wählerschaft davon zu überzeugen, dass er Unruhestifter verfolgt. Es würde mich nicht wundern, wenn Premier Erdogan aus dem Jahrestag so eine Art Wahlkampf für die Präsidentschaftswahl macht", so Acikel im DW-Gespräch. Der Jahrestag des Protestbeginns nähere sich, und immer noch werde nach den Polizei- und Sicherheitsbeamten gesucht, die unzählige Menschen verletzt und einige sogar getötet haben, so der Politologe. "Es herrscht eine deprimierende Stimmung im Volk. Der Gerichtsprozess zeigt, dass sich nichts geändert hat", sagt Acikel.

Abdullah Gül wirkte im politischen Alltag eher repräsentativBild: AFP/Getty Images

Erdogan als autoritärer Präsident?

Am 10. August wird zum ersten Mal ein türkischer Präsident direkt vom Volk gewählt. Sollte im ersten Wahlgang keine Entscheidung fallen, wird es am 24. August eine Stichwahl geben. Allerdings ist noch unklar, wer für das Amt kandidieren wird. Die meisten Beobachter gehen davon aus, dass Premierminister Erdogan sich als Kandidat aufstellen lassen wird. Vor allem das jüngste Treffen der Parteiführung der islamisch-konservativen AKP Anfang Mai lässt kaum noch Raum für Zweifel. Da wurde endgültig beschlossen, dass kein AKP-Vertreter länger als drei Legislaturperioden in demselben Amt bleiben darf. Mit dieser internen Regelung kann Erdogan nicht erneut Premierminister werden. Der stellvertretende Premier Bülent Arinc kündigte an, dass der Präsidentschaftskandidat der AKP "zu 100 Prozent Erdogan wird", wenn er es denn wolle.

Erdogan hat angekündigt, "alle Macht" des Amtes zu nutzen, falls er Präsident werden sollte. Das wäre etwas Neues in der türkischen Politik, sagt Evren Balta, Politologin an der Yildiz Universität in Istanbul. Dem türkischen Präsidenten stehe durch die Verfassung ziemlich viel Macht zu. "Diese Macht wurde aber bisher nie vollständig in Anspruch genommen. Die Präsidenten waren in der Türkei eher neutral und hatten eine symbolische Rolle." Doch Erdogan will das ändern. "Daher können wir sicher sein: Wenn Erdogan im August zum Präsidenten gewählt wird, dann wird er versuchen, wie ein Präsident in einem Präsidialsystem zu regieren", so Balta im DW-Gespräch. Und zwar, so glaubt die Politologin, mit einem autoritären Führungsstil.

Erdogan will ein Präsidialsystem, meint Evren BaltaBild: privat

Die Türkei unter Erdogan: ein "nicht freies" Land?

Von 2002 bis 2007 habe es unter Erdogan große Fortschritte bei der Demokratisierung des Landes gegeben, betont Balta. "Die Schwächung des Militärs war eine Hauptforderung seitens der EU für einen EU-Beitritt der Türkei. Erdogan war der erste Politiker, der das schaffte. Wir haben ihn gefeiert, weil er ein Reformist war", so die Politologin. Doch seit 2010 sei die AKP immer autoritärer geworden, was sich vor allem in der Kontrolle der Medien zeige. Balta verweist auf den jüngsten Bericht der Menschenrechtsorganisation Freedom House aus den USA. Darin wurde die Türkei zu den "nicht freien" Ländern herabgestuft. Ein Land also mit wenig bis gar keiner Pressefreiheit. "Unter Erdogan gibt es einfach zu viel Druck auf die Medien", so Balta.

Türkische Journalisten protestieren gegen die Beschränkungen der Pressefreiheit in der TürkeiBild: picture-alliance/dpa

Auch Fethi Acikel findet, dass Erdogan in den ersten Jahren seiner Regierungszeit als sehr reformfreundlich gegolten habe. "Doch als er spürte, dass seine Wählerschaft treu hinter ihm steht, fing der autoritäre Regierungsstil an. Die Presse wurde immer stärker kontrolliert, über 60 Kolumnisten haben ihre Jobs verloren, und das Staatsfernsehen geriet unter persönliche Kontrolle des Premiers." Erdogan würde die Türkei in ein Land im Putin-Stil mit einer islamisch-konservativen Führung verwandeln, sagt Aciklel. Die Türkei habe ein parlamentarisches und kein präsidiales System. "Doch wir alle wissen, dass Erdogan seine Macht als Präsident bis zum Maximum ausleben will, wenn er gewählt wird", so der Politologe.

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