Erdogan, Imamoglu und die Schwäche der EU
12. April 2025
Es war die größte Protestwelle in der Türkei seit 2013. Wochenlang gingen tausende Menschen auf die Straße, um gegen die Verhaftung von Ekrem Imamoglu zu demonstrieren. Der abgesetzte Bürgermeister von Istanbul ist der wichtigste politische Gegenspieler des türkischen Präsidenten Erdogan.
Der Oppositionspolitiker wurde am 19. März festgenommen und sitzt seit dem 23. März in Haft. Vielen seiner Anhänger widerfuhr dasselbe Schicksal: Nach Angaben der türkischen Behörden vom 27. März wurden landesweit 1879 Menschen festgenommen.
Von der EU nur verbale Schelte Richtung Ankara, mehr nicht
Angesichts des massiven Widerstands fällt die Kritik aus der EU an Ankaras Vorgehen gegen Oppositionelle auffällig verhalten aus. "Die Europäische Union ist zutiefst besorgt über die Festnahme und Inhaftierung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu und anderer Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, darunter auch Vertreter der Presse und der Zivilgesellschaft", erklärte Marta Kos, EU-Kommissarin für Erweiterung, am 1. April im Europäischen Parlament in Straßburg.
Sie bezeichnete die Entwicklungen in der Türkei als einen 'demokratischen Rückschritt' und fügte hinzu: "Wir haben wiederholt erklärt, dass die Türkei den negativen Trend in den Bereichen Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit wirksam umkehren muss."
Gespräche mit Lawrow statt mit der EU
Aus Protest gegen die Verhaftung Imamoglus sagte Kos ihren Besuch beim "Antalya Diplomacy Forum" vom 11. bis 13. April ab. Bei dem Treffen in der Türkei waren eigentlich Gespräche mit dem türkischen Außenminister Hakan Fidan vorgesehen.
Fidan traf stattdessen am Rande des Forums nach Agenturberichten mit dem russischen Amtskollegen Sergei Lawrow zusammen. Thema waren mögliche Waffenstillstandsverhandlungen im Ukrainekrieg.
Das Treffen zwischen Lawrow und Fidan ist ein erneuter Beleg für die aktuelle Schlüsselposition der Türkei. "Die Türkei ist derzeit die stärkste Kraft am Schwarzen Meer", erklärt Asli Aydintasbas, Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations, im DW-Gespräch.
Die EU braucht die Türkei
Die gedämpfte Reaktion der EU sei das Ergebnis verschiedener geopolitischer Zwänge, mit denen die EU zu kämpfen habe, so Aydintasbas. Die EU sei zu einem harten und pragmatischen Ansatz übergegangen, da die Zusammenarbeit mit der Türkei in verschiedenen regionalen Krisen notwendig werde, die sich direkt auf den Block auswirkten.
"Die Botschaft Ankaras lautet: Wir werden Russland nicht bekämpfen, aber unsere robuste Präsenz bedeutet, dass wir Russland die Kontrolle über das Schwarze Meer verweigern", so die Politologin.
Und sie fügt hinzu: "Es ist klar, dass der Bürgermeister von Istanbul nicht zu den Top 10 der Prioritäten der EU gegenüber der Türkei gehört."
Erdogan: "Europas Sicherheit ohne Türkei undenkbar"
Der türkische Präsident Erdogan ist sich seiner strategischen Übermacht bewusst. "Um es klar zu sagen", erklärte er am 3. März bei einer Veranstaltung von der Regierungspartei AKP, "die europäische Sicherheit ist ohne die Türkei undenkbar."
Bei ihrer Rede im EU-Parlament am 1. April bestätigte EU-Kommissarin Marta Kos dies. "Ob in Syrien, im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, im Libanon oder im Südkaukasus - die Türkei ist ein strategischer Partner Europas", sagte Kos bei ihrer Rede im Europaparlament.
Polen sieht Ankara als Vermittler
Auch NATO-Chef Mark Rutte tut sich mit direkter Kritik an Ankaras Umgang mit der Opposition schwer. Als er bei einer Pressekonferenz Anfang April gefragt wurde, ob er angesichts der Verhaftung Imamoglus das Angebot der Türkei, die NATO-Verbündeten zu einem informellen Treffen im Mai einzuladen, noch einmal überdenken würde, wich er aus.
Stattdessen würdigte er Ankaras Vermittlung im Ukrainekrieg. So habe die Türkei nach der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 das Getreideabkommen zwischen Russland und der Ukraine mitverhandelt. Außerdem habe die Türkei die Ukraine mit dringend benötigter Munition, Artillerie und Drohnen versorgt.
Das im Juli 2022 abgeschlossene, aber mittlerweile ausgelaufene Abkommen ermöglichte kontrollierte Getreideausfuhren aus den ukrainischen Schwarzmeerhäfen Odessa, Tschornomorsk und Piwdennyj (Juschny) über das Schwarze Meer.
Polens Premier Donald Tusk setzt weiter auf Erdogans Einfluss in Moskau. Bei einem Besuch Mitte März in Ankara sprach er sich dafür aus, dass die Türkei eine aktive Rolle bei der Aufnahme von Friedensgesprächen zwischen Russland und der Ukraine übernehmen solle.
Russisches Gas für Ankara
Doch die Türkei pflegt nicht nur gute Beziehungen zu Kiew, sondern auch zu Moskau. So weigert sich Ankara, antirussische Sanktionen zu verhängen und kauft weiterhin Energie aus Russland.
Die Türkei importiert nicht nur russisches Gas über die TurkStream-Pipeline, sondern liefert auch den größten Teil ihrer Agrarexporte nach Russland. Außerdem ist das Land für Millionen von Menschen aus Russland eine touristische Top-Destination.
Während Russland in der Türkei Fuß gefasst hat, verliert die EU an Einfluss. Die 2005 begonnenen Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU sind seit Juni 2018 praktisch zum Stillstand gekommen.
"Die EU hat kein Druckmittel mehr, weil es keine Verhandlungen über den Beitrittsprozess der Türkei, die Vertiefung der Zollunion oder die Visaliberalisierung gibt", erklärt Experte Selim Kuneralp im DW-Gespräch.
Der ehemalige Berater des türkischen Außenministeriums und Botschafter bei der EU vermutet: Die EU will nicht den Eindruck erwecken, dass sie Präsident Erdogan zu feindselig gegenübersteht."
Der Text wurde aus dem Englischen adaptiert.