Erdogans Balanceakt: Kann die Türkei ohne russische Energie?
6. Oktober 2025
Es war eine bemerkenswerte Szene im Oval Office in der vergangenen Woche. US-Präsident Donald Trump zeigte sich äußerst redselig und überschwänglich, als er seinen türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan vor Journalisten lobte: "Wir haben eine gute Beziehung. Er macht eine sehr gute Arbeit in seinem Land. Er ist ein hochgeachteter Mann. Jeder respektiert ihn. Ich respektiere ihn auch."
Doch inmitten des Lobes folgte eine Forderung, die für Ankara eine große wirtschaftliche und geopolitische Herausforderung darstellt: Trump verlangte von Erdogan, künftig kein Öl und Gas mehr aus Russland zu kaufen.
Diesen Druck erhöhten auch die G7-Staaten. Nach einem virtuellen Treffen am Mittwoch erklärten die sieben führenden westlichen Industrienationen - Deutschland, Großbritannien, Kanada, Frankreich, Italien, Japan und die USA - gemeinsam, es sei an der Zeit, "den Druck auf Russlands Ölexporte zu maximieren ". Das soll die Einnahmen schmälern, die Moskau für den Krieg benötigt.
Bisher hat die Türkei auf Trumps Äußerungen und die G7-Forderung nicht reagiert. Dies ist keine Überraschung, denn seine Energieabhängigkeit ist die verwundbarste Stelle des Landes am Bosporus. Die Türkei ist in der Energieversorgung enorm von Russland abhängig.
Daten und Fakten zur türkischen Energieabhängigkeit
Laut Daten der türkischen Regulierungsbehörde für Energiemärkte (EPDK) stammten im vergangenen Jahr 66 Prozent der türkischen Erdölimporte und -produkte aus Russland. Ein Jahr zuvor waren es dem führenden Energieexperten Necdet Pamir zufolge mehr als 68 Prozent, Ende 2022 lag sie bei 41 Prozent.
Die hohen Importzahlen sind eine direkte Folge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine: Die Türkei profitiert davon, dass Russland aufgrund der EU-Sanktionen unter Druck steht und sein Erdöl zeitweise bis zu 15 Prozent unter den internationalen Marktpreisen anbietet. Ein Importstopp würde nicht nur die Versorgungssicherheit der Türkei in Gefahr bringen, sondern auch diesen klaren Preisvorteil entfallen lassen.
Auch 41 Prozent ihrer Erdgasimporte bezog Ankara 2024 aus Russland. Das russische Gas wird hauptsächlich über die Pipelines Blue Stream (Mavi Akim) und Turk Stream (Türk Akim) in die Türkei geliefert.
Laut einem Bericht der Kammer türkischer Maschinenbauingenieure betrug der Anteil der fossilen Stoffe am Energiemarkt des Landes 2022 rund 84 Prozent, der Anteil der erneuerbaren Energien lag dagegen bei nur 16 Prozent .
Moskaus Abfuhr und Ankaras Strategie
Unmittelbar nach dem Treffen von Trump mit Erdogan meldete sich der Kreml zu Wort. Sprecher Dimitri Peskow betonte, dass die Gaspipelines in die Türkei mit "voller Kapazität" weiterarbeiteten. Eine Unterbrechung werde es nicht geben, solange der Gasfluss für die Türkei "nützlich" sei. Peskow betonte Moskaus Standpunkt: "Die Türkei ist ein souveräner Staat, der seine eigenen Entscheidungen hinsichtlich der Zusammenarbeit mit uns trifft."
Beobachter gehen nicht davon aus, dass die Türkei ihre Energieimporte aus Russland in den nächsten Jahren einstellen wird. Ankara setzt stattdessen auf eine stille Strategie: Diversifizierung.
Das staatliche Unternehmen BOTAS unterzeichnete während Erdogans jüngstem Besuch in den USA zwei langfristige Verträge, um seine Bezugsquellen für Erdgas zu erweitern: eine Vereinbarung mit der US-amerikanischen Firma Mercuria, die ab 2026 für 20 Jahre eine Gesamtmenge von 70 Milliarden Kubikmeter Flüssiggas (LNG) liefern soll; des Weiteren wurde eine Vorvereinbarung mit Woodside Energy über 5,8 Milliarden Kubikmeter LNG bekannt gegeben.
Kadri Tastan, Türkei-Experte der US-amerikanischen Stiftung German Marshall Fund, stellt fest, dass sich die türkische Regierung in den vergangenen Jahren tatsächlich große Mühe gibt, ihre Quellen zu diversifizieren, um ihre Energiesicherheit zu gewährleisten. Gleichzeitig fördere sie auch heimische und insbesondere erneuerbare Energien.
Die neuen Abkommen mit den USA beinhalten seiner Ansicht nach neben der Diversifizierung auch einen strategischen Aspekt. Die politischen Beziehungen zu den USA seien in den letzten Jahren angespannt gewesen, erinnert Tastan. Präsident Trumps Priorität sei es, Amerika zum führenden Energieland zu machen und verstärkt fossile Brennstoffe wie LNG zu verkaufen. Solche Energiegeschäfte könnten zu einem erleichternden Faktor für Verhandlungen in anderen politischen Fragen mit den USA werden, so Tastan weiter. Trump führe einen Zollkrieg und hier könnten die LNG-Käufe als Verhandlungshebel eingesetzt werden, nach dem Motto: "Sehen Sie, wir kaufen mehr LNG, dafür könnten Sie uns bei einem anderen Thema entgegenkommen."
Außer in den USA hat die Türkei in den vergangenen Jahren auch mit Ägypten, Algerien, Katar und Nigeria Verträge für flüssiges Gas unterzeichnet.
Ankara: auch bei Atomenergie und Braunkohle von Moskau abhängig
Auch bei weiteren Energieträgern ist die Türkei stark von Russland abhängig. Im Jahr 2022 deckte das Land 43 Prozent seines Bedarfes an Braunkohle aus russischen Importen. Zudem wird das erste Kernkraftwerk Akkuyu in der Südtürkei vom russischen Staatskonzern Rosatom gebaut. Immer wieder wird die Fertigstellung wegen Russlandsanktionen verzögert. Laut türkischem Energieminister Alparslan Bayraktar soll es nun nächstes Jahr den Betrieb aufnehmen. Ganz fertig wird die Anlage vermutlich erst 2028.
Und so wird die Türkei für ihre Energieversorgung wohl auch in Zukunft einen komplexen Balanceakt meistern müssen: zwischen dem Westen, der Sanktionen gegen Moskau fordert, und seinem bis auf weiteres wichtigsten Energielieferanten Russland.