Erdogan und die Kurden: Zwischen Annäherung und Eskalation
13. November 2024Es war eine große Überraschung, als Devlet Bahceli, Vorsitzender der ultranationalistischen Partei MHP, im Oktober plötzlich auf die kurdischen Politiker der DEM-Partei zuging und ihnen die Hand reichte. Jahrelang hatte er behauptet, die linke, prokurdische DEM sei genau wie ihre Vorgängerpartei HDP ein verlängerter Arm der Terrororganisation PKK und gehöre daher verboten.
Noch überraschender kam sein Vorschlag ein paar Wochen später, PKK-Führer Abdullah Öcalan könnte unter Auflagen freigelassen werden, falls er die Auflösung der PKK ankündigen würde. Ein unerwarteter Vorstoß vom MHP-Chef, dessen Partei als Urorganisation der rechtsextremistischen Grauen Wölfe gilt und für ihre minderheitenfeindliche Ideologie bekannt ist.
In den Tagen danach empfing PKK-Führer Öcalan zum ersten Mal seit 43 Monaten Besuch von seiner Familie. Der 76-Jährige sitzt seit 1999 in einem Hochsicherheitsgefängnis in Isolationshaft.
Schon vor zehn Jahren gab es einen Friedensprozess mit der PKK, den Erdogan jedoch 2015 aufkündigte. Nach einigen gewaltfreien Jahren flammte der blutige Konflikt erneut auf. Die türkische Regierung begann, hart gegen kurdische Politiker im eigenen Land vorzugehen und startete Militäroperationen in Nordirak und Nordost-Syrien. In den Kandilbergen im Irak liegt das Hauptquartier der PKK. In Syrien hat sich seit dem Bürgerkrieg mit Rojava de facto eine kurdische Selbstverwaltung etabliert.
Mit Zuckerbrot und Peitsche?
Seit Bahcelis Vorstoß, Öcalan unter Umständen vorzeitig freizulassen, wird in der Türkei darüber gerätselt, was Ankara vorhat. Warum suchen Regierungsvertreter einerseits die Nähe zu Öcalan, während gleichzeitig gewählte kurdische Lokalpolitiker abgesetzt werden? Hat die Regierung mit dem PKK-Führer Geheimverhandlungen geführt, dabei aber nicht das erzielt, was sie wollte?
Erst vor zwei Wochen wurde der Bürgermeister des Istanbuler Stadtbezirks Esenyurt wegen angeblicher Verbindungen zur PKK verhaftet. Wenige Tage später wurden im Südosten des Landes drei kurdische Bürgermeister durch Zwangsverwalter ersetzt. So erging es auch Ahmet Türk, einem Urgestein der kurdischen Politik.
Der 82-Jährige wurde in der Vergangenheit schon dreimal zum Bürgermeister von Mardin gewählt, dreimal wurde er wieder entlassen.
Beobachter sind sich einig: Erdogan will erneut Präsident der Türkei werden. Für eine vierte Amtszeit wäre eine Verfassungsänderung notwendig, doch fehlt ihm dazu die notwendige Mehrheit im Parlament. Um diese zu erreichen, plane er mit Zuckerbrot und Peitsche, die Kurden und die prokurdische DEM auf Linie zu bringen. Dafür lockt er auch mit Zugeständnissen - wie etwa einem abgemilderten Hausarrest für Öcalan oder einer möglichen Beendigung der Zwangsverwaltungspraxis in kurdischen Gebieten. Somit könne er zudem auch die Opposition spalten.
Machtverschiebung im Nahen Osten?
Für Politikwissenschaftlerin Arzu Yilmaz an der Universität von Kurdistan Hewler im nordirakischen Erbil spielen bei dem jüngsten Vorstoß weitere Gründe eine entscheidende Rolle: "An erster Stelle kommt die instabile Lage im Nahen Osten und die Entscheidung der US-Administration, bis 2026 die amerikanischen Soldaten aus dem Irak und Syrien zurückzuziehen". Nach der Wiederwahl von Donald Trump könnte dies vielleicht schneller erfolgen, meint sie. Noch sind im Irak 2500 und in Syrien 900 US-Soldaten stationiert. In Syrien kooperieren sie eng mit den dortigen kurdischen Milizen. "Im Nahen Osten verschieben sich die Machtverhältnisse, aber die Türkei ist trotz ihrer Ambitionen kein wichtiger Player dort", so Yilmaz. Das könnte Ankara ändern wollen.
In die gleiche Richtung äußerte sich auch Bese Hozat, Co-Vorsitzende der KCK, der Dachorganisation der PKK. In einem Interview sagte sie, die geopolitische und geostrategische Position und der Einfluss der Türkei in der Region werde allmählich schwächer. Dies versetze die türkische Regierung in Panik. Sie suche nach einem Ausweg und versuche für ihre Zwecke, den Kurdenführer Öcalan zu instrumentalisieren.
Neue Militäroperationen erwartet
Am Sonntag kündigte Erdogan an, bald die "Sicherheitslücken an den südlichen Grenzen" zu schließen. Damit drohen weitere türkische Militäroperationen in Syrien und Irak.
Die irakischen Kurden müssten sich aus Sicht von Arzu Yilmaz keine Sorgen um ihre Zukunft machen. Ihr Status quo sei in der Verfassung des Landes verankert. Die Zukunft des Selbstverwaltungsgebiets Rojava in Nordostsyrien dagegen sei ungewiss. Bisher sei es von den USA unterstützt worden. Was nach dem Abzug der US-Truppen geschehen und wer das entstehende Machtvakuum füllen wird, sei unklar. Entscheidend sei, wie die Kurden in den verschiedenen Gebieten untereinander kooperierten. "Das wird ausschlaggebend dafür sein, ob die Kurden am Ende verstärkt oder geschwächt aus dieser Krise hervorgehen werden".
Quellen aus dem Umfeld der PKK zufolge hat ein erstes Treffen kurdischer Parteien aus dem Irak, Iran, Syrien und der Türkei bereits letzte Woche in Brüssel stattgefunden, um über die Lage in Nahost und den Vorstoß Ankaras zu beraten. Über die Ergebnisse ist nichts bekannt.
Die Kurden sind weltweit das größte Volk ohne eigenen Staat. Schätzungen zufolge leben in der Türkei mehr als zwölf Millionen, im Irak und Iran jeweils rund sechs Millionen und in Syrien knapp drei Millionen Kurden.
Die größte kurdische Gemeinschaft in der Diaspora lebt mit rund einer Million Menschen in Deutschland. Am 16. November hat sie zu einer Großdemonstration in Köln aufgerufen, um gegen das aktuelle Vorgehen der türkischen Regierung zu protestieren.