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Politik

"Erdogan war noch nie so schwach"

Hilal Köylü
5. Januar 2018

Abdüllatif Sener war AKP-Gründungsmitglied. Mit der DW sprach er über den entflammten Konflikt zwischen dem ehemaligen Staatspräsidenten Gül und Erdogan und über die politische Lage in der Türkei.

Recep Tayyip Erdogan und Abdullah Gül (Archivbild)Bild: AFP/Getty Images

Zwischen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und seinem Vorgänger, dem ehemaligen Staatspräsidenten und Gründungsmitglied der AKP, Abdullah Gül, ist das Verhältnis derzeit angespannt. Grund dafür ist ein vor kurzem erlassenes Dekret, wonach Zivilisten, die am 15. Juli 2016 mit dazu beigetragen haben, den Putschversuch zu vereiteln, frei von jeglicher Strafverfolgung sein sollen. Der ehemalige Staatspräsident Abdullah Gül ist der Meinung, diese Regelung sei zu schwammig und müsste der Revision unterzogen werden. Ankara bewertet das als den Beginn eines Aufstandes gegen Erdogan. Auch kursiert das Gerücht, Gül könnte bei den Wahlen 2019 als Erdogans Herausforderer antreten.

Abdüllatif Sener ist ein ehemaliges AKP-Gründungsmitglied. Er ist der Überzeugung, Erdogan habe in letzter Zeit deutlich an Stimmen eingebüßt. Mit der richtigen Strategie könne es der Opposition gelingen, nächstes Jahr bei den Präsidentschaftswahlen Erdogan zu besiegen, so Sener. Abdullah Gül sei jedoch nicht in der Lage, Erdogan herauszufordern. Die Deutsche Welle sprach mit Abdullatif Sener.

DW: Der ehemalige Staatspräsident Abdullah Gül kritisiert das letzte Notstandsdekret, wonach Zivilisten, die an der Vereitelung des Putschversuchs mitgewirkt haben, unbehelligt bleiben sollen. Er findet das Dekret in rechtsstaatlicher Hinsicht bedenklich. Wie bewerten Sie das?

Abdüllatif Sener: Gül hat niemandem widersprochen und hat keinerlei Kritik geübt. Diejenigen, die sich wünschen, dass sich die AKP spaltet, haben ihre Hoffnung in einen Disput zwischen Gül und Erdogan gelegt. Das ist psychologisch schlecht. Niemand, weder im Land noch außerhalb, glaubt daran, dass sich Erdogan von der Macht verabschiedet. Eigentlich handelt es sich dabei um ein verzweifeltes Suchen nach dem Motto "wenn die AKP sich spaltet, könnten wir von dem unterdrückenden Regime befreit werden". Ich denke, das ist sehr schlecht.

Was hat Gül denn dann gemacht?

Das Ausnahmezustandsgesetz hat hunderte von Paragraphen und fast jeder davon steht im Widerspruch zur Verfassung und zum Recht und ist gefährlich. Von diesen hunderten von Paragraphen eines Dekrets einen einzigen als schwammig zu bezeichnen, ist noch keine Kritik. Das ist sehr schwach und doch wird überall darüber geredet. Gül versucht damit, sich einzubringen und nicht in Vergessenheit zu geraten.

Gibt es also keine Auseinandersetzung zwischen Erdogan und Gül?

Nein, das gab es nie. Gül hat sich Erdogan immer angepasst. Als am 16. April 2017 beim Referendum über die Einführung des Präsidialsystems abgestimmt wurde, verriet Gül nicht, für was er gestimmt hat. Wenn ein ehemaliger Staatspräsident bei einem Systemwechsel nicht sagen kann, für was er stimmt, wie können Sie dann von diesem Menschen erwarten, dass er eine politische Figur ist? Das ist unmöglich. Auch bei den sogenannten Gezi-Protesten im Sommer 2013 hat Gül geschwiegen.

Was war dann der Grund dafür, dass Erdogan gegen Gül wetterte und "Schande über ihn" sagte? Was steckt hinter dieser Polemik?

Erdogan sieht, dass seine Stimmen schwinden. Wirtschaftliche und außenpolitische Probleme nehmen zu. Selbst seine Stammwähler kritisieren die Dekrete und den Ausnahmezustand. Erdogan vergrault seine kurdischen Wähler, spaltet sie. Es entstehen Probleme zwischen ihm und den Wählern, die ihm an die Macht verhalfen. Dadurch verliert er an Stimmen. Die Menschen machen sich auf die Suche nach jemandem, der sich Erdogan, der den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung aufgelöst hat, entgegenstellt. Sobald Erdogan meint, dass als Resultat dieser Suche Gül ihm entgegenstehen könnte, versucht er, ihn einzuschüchtern. Und wer sind diese Leute, die auf der Suche sind? Das zieht sich von Geschäftsmännern, die die derzeitige politische Struktur zermürbt hat, über das Kapital, über die Medien bis hin zur Politik. Ständig werden neue Namen auf die Probe gestellt. Erdogan ist sich dessen bewusst und es gefällt ihm nicht, dass sich Gül immer wieder zeigt.

Abdullah Sener, ehemaliger AKP-AbgeordneterBild: DW/H. Köylü

Welche Atmosphäre hat diese Art von Politik in der Türkei geschaffen?

Die Menschen in der Türkei können die Politik nicht mehr kritisieren. Weder die Medien noch unabhängige Oppositionelle können noch Kritik üben, ebenso wenig Politiker. Der Staatspräsident kann den Vorsitzenden der Oppositionspartei sowie Parlamentsmitglieder beschuldigen, den Terror unterstützt zu haben und ein Verfahren einleiten, bei dem die Angeklagten vier Jahre Gefängnisstrafe erhalten. Die Opposition hingegen kann nichts gegen Erdogan tun. Gegen mich läuft eine Untersuchung wegen eines Tweets. Obwohl ich dazu befragt wurde, wird die Akte nicht geschlossen. Dabei gibt es Entscheidungen des Europäischen Menschengerichtshofs (EGMR) dazu: Wenn in einem Land die Machthabenden nicht scharf kritisiert werden können, bedeutet das, das die Voraussetzungen für eine demokratische Gesellschaft nicht hinreichend geschaffen wurden. In der Türkei wurden hinsichtlich der Entscheidung des EGMR diese Voraussetzungen für eine demokratische Gesellschaft aufgehoben.

Nächstes Jahr gibt es in der Türkei Präsidentschaftswahlen. Danach wird das präsidiale System eingeführt werden. Was denken Sie, was in der Türkei politisch geschehen wird?

Ich bin kein Wahrsager, aber Erdogan war noch nie so schwach. Er denkt an seine Stimmen und verliert die wackeligen. Hier sind die Medien seine größte Chance. Auch wenn die Medien ihn in höchsten Tönen loben, entstehen bei einem bedeutenden Anteil der Wähler immer mehr Fragezeichen. Wenn man das gut nutzt, verliert Erdogan die nächsten Wahlen.

Abdüllatif Sener ist AKP-Mitbegründer, Ex-Stellvertreter von Ministerpräsident Erdogan und ehemaliger AKP-Abgeordneter.

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