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Politik

Erdogans autoritärer Umbau der Türkei

Pelin Ünker
15. Juli 2021

Vor fünf Jahren versuchten Teile des Militärs einen Putsch in der Türkei. Dieser misslang - und doch war er Startpunkt für einen radikalen Umbau des Staates. Die Nachwirkungen sind in vielen Bereichen bis heute spürbar.

16.7.2016: Erdogan-Anhänger demonstrieren in Istanbul gegen den Putschversuch
16.7.2016: Erdogan-Anhänger demonstrieren in Istanbul gegen den PutschversuchBild: Sedat Suna/EPA/dpa/picture alliance

Am 15. Juli 2016 versuchten Teile des Militärs, gegen die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan zu putschen. Panzer rollten auf den Straßen, Kampfjets rasten über die Städte. Das Parlament wurde von abtrünnigen türkischen Soldaten bombardiert. In den beiden größten Städten Istanbul und Ankara kam es zu heftigen Gefechten - mit Sicherheitskräften der türkischen Regierung, aber auch mit Zivilisten. Die traurige Bilanz: In der Nacht kam es zu 250 Todesopfern und mehr als 2000 Verletzten.

Genau fünf Jahre nach dem Umsturzversuch ist die türkische Politik kaum noch wiederzuerkennen. Erdogan begann mit einer großangelegten "Säuberung", bei der zehntausende Menschen verhaftet wurden. Über 125.000 Beamte wurden entlassen, mehr als 2700 Vereine, Medien und Bildungseinrichtungen geschlossen. Die Geschassten werden verdächtigt, Gülen-Anhänger zu sein. Der Prediger Fethullah Gülen lebt seit Jahren im Exil in Philadelphia und soll laut türkischer Regierung für den Putschversuch verantwortlich gewesen sein.  

Präsident Erdogan verdächtigt seinen alten Weggefährten Fethullah Gülen, hinter dem Aufstand zu steckenBild: Reuters/G. Savoy

Vom Notstand zum präsidentiellen System

Erdogan verhängte anschließend einen Ausnahmezustand, der durch mehrere Verlängerungen erst nach zwei Jahren aufgehoben wurde. Durch den Notstand erhielt der Präsident die Befugnis, per Dekret zu regieren. So konnte Erdogan nun wichtige Entscheidungen treffen - ganz ohne Mitbestimmung des Parlaments. Wegen der umstrittenen Massenverhaftungen und Massenentlassungen aus dem öffentlichen Dienst bezeichnete die Opposition den Ausnahmezustand als "zivilen Putsch und Hexenjagd gegen Regierungskritiker".

"Ein-Mann-Regime": Seit dem Putschversuch baute Präsident Erdogan seine Machtbefugnisse immer weiter ausBild: Murat Cetinmuhurdar/PPO via REUTERS

Viele weitreichende Befugnisse behielt Erdogan auch nach Ende des Ausnahmezustands. Denn mithilfe eines Verfassungsreferendums im April 2017 ließ Erdogan ein Präsidialsystem einführen - das parlamentarische System wurde abgeschafft. Im Juni 2018 gewann Erdogan erneut die Präsidentschaftswahl. Seine "Volksallianz", ein Wahlbündnis bestehend aus der islamisch-konservativen AKP und der ultranationalistischen MHP, sicherte sich die Mehrheit im türkischen Parlament. Erdogan hatte so viele Machtbefugnisse hinzugewonnen, dass in der Türkei oft kritisch von einem Ein-Mann-Regime gesprochen wird.

Die Justiz an Erdogans Kandare

Die Kontrolle durch das Parlament wurde durch diesen Wechsel des Regierungssystems stark eingeschränkt. Aber auch die Justiz wurde seither immer mehr an die Kandare genommen. Heute hat die türkische Öffentlichkeit nachweislich kaum noch Vertrauen in die Jurisprudenz - viele gehen davon aus, dass die Rechtsprechung heute nicht mehr unparteiisch ist. Laut einer Umfrage der Stiftung für Sozialdemokratie aus dem Jahr 2019 ist das Vertrauen in der Bevölkerung in die Justiz auf 38 Prozent gesunken. Die Türkei belegt im Rechtsstaatlichkeits-Index des "World Justice Project" vom Jahr 2020 nur den 107. Platz von 128 Ländern.

Im Präsidialsystem kann der Staatschef nun sechs Mitglieder des Rats für Richter- und Staatsanwälte (HSK) ernennen - ein wichtiges Organ zur Kontrolle von Gerichten. Die restlichen sieben Mitglieder werden vom Parlament bestimmt. Weil aber auch das Parlament von Erdogans Bündnis dominiert wird, hat Erdogan bei der Besetzung des HSK alle Trümpfe in der Hand. Seither sind viele Türken besorgt, dass die Judikative als Werkzeug missbraucht wird. 

"Keine richterliche Unabhängigkeit mehr"

Mehmet Durakoglu, Präsident der Istanbuler Anwaltskammer, sagte im Gespräch mit der DW, dass die Loyalität zur Regierung wichtiger sei als die fachliche Qualifikation. "Dieses seltsame System mit einer Ein-Mann-Mentalität berücksichtigt bei der Ernennung von Richtern und Staatsanwälten nicht das Verdienstprinzip. Die Dimension, die wir erreicht haben, wirkt sich ernsthaft auf die richterliche Unabhängigkeit aus".

In der Justiz geht es nur um die Loyalität zur Regierung, meint Mehmet Durakoglu von der Istanbuler AnwaltskammerBild: privat

Der Eindruck, dass die Justiz nicht politisch unabhängig ist, hat sich auch deshalb verfestigt, weil prominente Figuren wie der damalige Co-Parteivorsitzende Selahattin Demirtas von der prokurdischen HDP und der Kulturförderer Osman Kavala trotz dürftiger Beweislage inhaftiert wurden. Immer wieder wird kritisiert, dass Journalisten, Politiker, Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger aufgrund haltloser Anschuldigungen festgenommen wurden und dass durch politische Prozesse Druck auf Grundrechte wie Presse- und Meinungsfreiheit, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit ausgeübt wird.

Erdogans Regierung im Clinch mit dem EGMR

Viele Kritiker verweisen außerdem auf die andauernden Konflikte mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Im Jahr 2020 sind beim EGMR 11.750 Beschwerden aus der Türkei eingegangen. Das Gericht ermahnte die türkische Regierung wegen 85 Verstößen. In 31 Fällen habe die Regierung gegen die Meinungsfreiheit verstoßen, 21-mal wurde das Recht auf ein faires Verfahren und 16-mal das Recht auf Sicherheit und Freiheit missachtet.

Beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg beobachtet man die Entwicklung der Justiz in der Türkei mit SorgenBild: picture-alliance/Bildagentur-online/Fischer

Der ehemalige Co-Chef der HDP, Selahattin Demirtas, der seit mehr als vier Jahren im Gefängnis sitzt, befindet sich trotz einer Beschwerde des EGMR am 20. November 2018 immer noch im Gefängnis von Edirne. Am 22. Dezember 2020 forderte der EGMR, dass Demirtas unverzüglich freizulassen sei. Es wurde betont, dass die Fortsetzung der Inhaftierung des Politikers nicht aus "rechtlichen, sondern aus versteckten politischen Gründen" erfolgt sei." Auch der seit Oktober 2017 inhaftierte Unternehmer und Kulturmäzen Osman Kavala befindet sich trotz einer Beschwerde des EGMR noch immer in Haft.

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