1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Erdogans Macht bröckelt

Daniel Derya Bellut
27. Juni 2019

Die Niederlage der AKP bei der Kommunalwahl in Istanbul war die größte Pleite in der Karriere des türkischen Präsidenten - und ist Sinnbild für eine tiefgreifende Krise. Erleben wir den Anfang vom Ende der Ära Erdogan?

Türkei | Istanbuls neuer Bürgermeister Imamoglu trifft auf Präsident Erdogan
Bild: DHA

Die Wahlschlappe vom vergangenen Sonntag ist für den erfolgsverwöhnten türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan ein Wendepunkt. Seit seinem Amtsantritt als türkischer Ministerpräsident im Jahr 2002 konnten er und seine Regierungspartei AKP jede überregional bedeutende Wahl für sich entscheiden. Auch aus den Kommunalwahlen von Ende März ging die islamisch-konservative AKP landesweit noch immer als deutlich stärkste Kraft hervor.

Doch in den Städten laufen ihr die Wähler davon. Neben Istanbul verlor die AKP auch die Metropolen Antalya, Adana, Diyarbakir, Izmir und sogar die Hauptstadt Ankara an die Opposition. Das zeigt, dass die Gunst der Wähler schwindet und Erdogans Macht bröckelt. Zwar hatte die AKP nichts unversucht gelassen, um wenigstens die bedeutende Metropole am Bosporus doch noch zu halten. Doch die von Erdogan und seiner Partei angestrebte und schließlich auch durchgesetzte Wiederholung der Wahl in Istanbul erwies sich im Nachhinein als folgenreicher Fehler. Denn sie stärkte die Machtposition des Oppositionskandidaten Ekrem Imamoglu nur noch mehr; er fuhr sogar ein besseres Ergebnis ein als beim ersten Urnengang. 

Der neue Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu, gilt als größte Hoffnung der OppositionBild: Presseabteilung von Ekrem İmamoğlu

Wirtschaftskrise: Kein Ende in Sicht

Ausschlaggebend für die Niederlage der AKP in zahlreichen Städten war die Wirtschafts- und Währungskrise, die seit Sommer 2018 die Bevölkerung belastet. Die hohe Arbeitslosigkeit und die Turbo-Inflation machen der Bevölkerung schwer zu schaffen, zeitweise kam es zu einem explosionsartigen Preisanstieg bei Grundnahrungsmitteln, etwa bei Zwiebeln und anderem Gemüse, was viele Türken verärgerte.

Die marode Wirtschaft müsste dringend saniert werden, sagt Erdal Yalcin, Türkeiexperte an der Uni Konstanz. "Das heißt aber: Unprofitable Unternehmen müssten pleitegehen, der Konsum müsste heruntergefahren werden, die Arbeitslosigkeit wird zwangsläufig ansteigen." Solche Zustände würden Erdogan, dessen Popularität auch mit dem wirtschaftlichen Aufschwung seit seinem Amtsantritt zu erklären ist, enorm schaden. Zusätzlich belastet das schwierige Verhältnis Ankaras zu den USA die türkische Wirtschaft. Sollte die Türkei tatsächlich im Juli das russische Raketenabwehrsystem S-400 kaufen, wird das höchstwahrscheinlich US-Wirtschaftssanktionen nach sich ziehen.

In Zeiten der Wirtschaftskrise tolerieren selbst regierungstreue Türken keine Verschwendung von Steuergeldern mehr. Das hat Imamoglu erkannt. Während des Wahlkampfes ließ er keine Gelegenheit aus, auf den verschwenderischen Umgang mit Geldern aus der Istanbuler Stadtkasse hinzuweisen. "Von nun an ist mit den Begünstigungen für ein paar ausgewählte Stiftungen, Vertraute und Gemeinden Schluss; von nun an wird ganz Istanbul begünstigt", kündigte Imamoglu an. Die AKP unterhält ein "Patronage-Netzwerk", das Begünstigungen und Sonderregelungen für regierungsnahe Geschäftsleute und Unternehmen bietet und dafür deren Unterstützung erhält.

Die Verstrickungen von Politik und Wirtschaft hätten ein bislang unerreichtes Ausmaß angenommen, so Kristian Brakel von der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. "Mit der Übernahme der Istanbuler Verwaltung deckt die CHP auf, in welchem Maße Geld in welche Kanäle gelenkt wurde." Der Machtwechsel könnte auch illegale Machenschaften der Vorgänger-Verwaltung aufdecken, die über Vetternwirtschaft hinausgehen - ein Gesichtsverlust auch für Erdogan.

Opposition stark wie nie

Dass der türkische Präsident und die AKP nach diesem System verfahren, haben die Türken lange hingenommen. Erdogan sei "alternativlos", lautete lange Zeit die geläufigste Rechtfertigung derjenigen Türken, die den türkischen Präsidenten unterstützen. Nun aber gibt es Alternativen. Die Opposition hat es zum ersten Mal geschafft, sich gegen die übermächtige Regierungspartei AKP zu verbünden.

Die stärkste Oppositionspartei CHP hat sich mit der ultranationalistischen Iyi Parti in einem Wahlbündnis zusammengeschlossen, das von der prokurdischen HDP unterstützt wurde. In Istanbul zum Beispiel hat die HDP keinen Kandidaten aufgestellt; kurz vor den Wahlen rief der inhaftierte ehemalige HDP-Chef Selahattin Demirtas zur "Wahl gegen den Faschismus" auf - dies sicherte Imamoglu im ersten Wahlgang den Sieg. Es ist zu erwarten, dass die vereinte Opposition auch bei kommenden Wahlen ihre Kräfte erfolgreich vereinen wird. Das Wahlbündnis aus AKP und der rechtsextremen MHP hingegen wirkt deutlich brüchiger – vor allem wegen eines Streits über den Umgang mit der kurdischen Minderheit in der Türkei.

Früher Weggefährten, bald Konkurrenten? Erdogan (l.) und der ehemalige Präsident Abdullah GülBild: AFP/Getty Images

Spaltet sich die AKP?

Aber auch in den eigenen Reihen scheint die Machtbasis des türkischen Präsidenten zu bröckeln. AKP-Schwergewichte wie Ex-Präsident Abdullah Gül, der ehemalige Ministerpräsident Ahmet Davutoglu oder der ehemalige Wirtschaftsminister Ali Babacan äußern sich ungewohnt kritisch über die AKP-Führung. Türkische Medien berichten schon länger darüber, dass diese "Abtrünnigen" bald eine neue Partei gründen könnten.

Und der Zeitpunkt hierfür war noch nie so günstig. Denn Erdogans "Nimbus der Unbesiegbarkeit" gehört der Geschichte an. So viele Herausforderungen und Misserfolge erlebte der erfolgsverwöhnte Staatspräsident noch nie. Doch noch ist es zu früh, um Prognosen zu wagen, ob Erdogan den Zenit seiner Macht tatsächlich schon überschritten habe. Die wichtigsten Institutionen des Landes – darunter das Militär, die Justiz oder die Medien – hat er unter seine Kontrolle gebracht. Das 2018 eingeführte Präsidialsystem gibt Erdogan mehr politische Befugnisse als jedem seiner Vorgänger. Seine Macht mag bröckeln, doch in den vergangenen 17 Jahren hat Reccep Tayyip Erdogan alles dafür getan, sie sorgfältig abzusichern.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen