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Politik

Erdogans stärkste Waffe

10. Juli 2018

In der Türkei ist ein neues Präsidialsystem in Kraft getreten. Es gewährt Staatschef Erdogan weitgehende Kompetenzen. So kann er unter anderem quasi im Alleingang Dekrete erlassen - und so am Parlament vorbeiregieren.

Türkei Präsident Recep Tayip Erdogan vor Vereidigung
Bild: picture-alliance/AA/E. Aydin

Seit dem Putschversuch im Juli 2016 gilt in der Türkei der Ausnahmezustand. Er soll nach dem 18. Juli nicht mehr verlängert werden. Doch die Gesetzgebungskompetenz, die Präsident Recep Tayyip Erdogan aufgrund der Notstandsdekrete während des Ausnahmezustands besaß, verliert er trotzdem nicht. Das neue Zauberwort heißt "Präsidentendekret". Mit der Einführung des Präsidialsystems kann Erdogan von nun an regulär Dekrete erlassen, die faktisch Gesetzeskraft besitzen. Sie müssen nicht vom Parlament gebilligt werden.

Schon die Notstandsdekrete hatten viele Kritiker für fragwürdig gehalten. So wurden aufgrund des letzten Erlasses in der Türkei am vergangenen Wochenende 18.000 Beamte entlassen, darunter Universitätsdozenten, die die Regierung offen kritisiert hatten. Außerdem wurden zwölf Vereine, drei Zeitungen und ein TV-Sender geschlossen. Daher nimmt die Sorge zu, die künftigen Präsidentendekrete könnten den Rechtsstaat weiter schwächen.

"Große Gefahr für die Freiheiten der Menschen"

Sami Selcuk ist Ehrenvorsitzender des Kassationshofs, eines der obersten Gerichte der Türkei. Er zählt zu den bedeutendsten Juristen des Landes. Die Tatsache, dass die Türkei nun mit Dekreten regiert werden kann, sei für die individuellen Freiheiten der Menschen eine große Gefahr, meint Selcuk. "Leider macht sich in der türkischen Gesellschaft immer mehr die Überzeugung breit, dass die Justiz nicht unabhängig ist. Als Jurist bin ich über die jetzige Entwicklung sehr bestürzt", so Selcuk.

Gerade die Unabhängigkeit der Justiz und die Kontrolle über die Dekrete gehören zu den umstrittensten Aspekten des neuen Präsidialsystems. Die Dekrete des Präsidenten sollen vom Verfassungsgericht geprüft werden. Allerdings werden von den 15 Mitgliedern des Gerichts zwölf von Erdogan selbst und nur zwei vom Parlament bestimmt. Deswegen wird bezweifelt, ob das Gericht unabhängig Entscheidungen treffen und eine echte Kontrolle über Erdogans Dekrete ausüben kann.

Massenentlassungen während des Ausnahmezustands

Insgesamt wurden während des Ausnahmezustands per Dekret 125.000 Menschen entlassen. Zuerst wurden Mitglieder der Gülen-Bewegung oder Personen, die ihr nahe stehen, aus dem öffentlichen Dienst entfernt. Doch die Entlassungswelle erfasste schnell auch die kurdischen Verwaltungen, die oppositionelle Presse und die Universitäten. Jeder, der auch nur den Verdacht erweckte, gegen Erdogan zu sein, verlor seine Arbeit.

Am stärksten traf der Ausnahmezustand die Medien. 170 Medienunternehmen wurden geschlossen. Nach Angaben von Journalisten-Organisationen sitzen derzeit insgesamt 143 Journalisten und Angestellte von Medienunternehmen in türkischen Gefängnissen.

Proteste in Istanbul gegen die Inhaftierung von JournalistenBild: Getty Images/AFP/O. Kose

"Vom Ausnahme- zum Dauerzustand"

Faruk Eren ist Vorsitzender der türkischen Journalistengewerkschaft, die dem größten linken Gewerkschaftsverband DISK angehört. Er meint, Erdogan sage zwar, er wolle den Ausnahmezustand aufheben, doch in Wirklichkeit verwandele er ihn in einen Dauerzustand. "Auch künftig werden leider viele Journalisten ihre Arbeit verlieren", so der Gewerkschaftsvorsitzende.

Eren sagte weiter, mit Hilfe der Dekrete könne nun ein einzelner Mann das Land regieren, so wie er es wolle. "Die Presse wurde in der Türkei schon immer unter Druck gesetzt. Doch mit dem Ausnahmezustand nahm das noch zu und wurde zur Norm. Auch unter dem neuen System wird man Journalisten und Medienunternehmen, die Erdogan kritisieren, mit solchen Dekreten bestrafen", glaubt Eren.

"Präsidialsystem hat keine rechtliche Grundlage"

Sami Selcuk hält das neue Präsidialsystem, das nach Erdogans Amtseid in Kraft getreten ist, rechtlich gesehen für ungültig. Denn beim Referendum am 16. April 2017, bei dem über die Änderung der Verfassung hin zu einem Präsidialsystem abgestimmt wurde, habe es Gesetzeswidrigkeiten gegeben.

Selcuk macht zudem darauf aufmerksam, dass im Vorfeld des Referendums die Wahlkommission des Landes entschieden hatte, Wahlumschläge auch ohne Siegel gelten zu lassen. Später habe sie aber die Regeln für die Wahl wieder geändert. "Wegen dieser Entscheidung fehlt nun dem in Kraft getretenen neuen Präsidialsystem eine rechtliche Grundlage", glaubt Selcuk. Erdogan selbst halten solche Bedenken jedoch nicht auf: Nur einen Tag nach seiner Vereidigung erließ er bereits die ersten drei Dekrete. Damit sicherte er sich schon einmal eine größere Kontrolle über die türkischen Streitkräfte und weitreichende Befugnisse in der Finanzpolitik.

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