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Erfurt nach der Tragödie

29. April 2002

Nach dem Amoklauf mit 17 Toten am 26. April 2002 steht Erfurt weiter unter Schock. Tausende von Menschen strömen zum Gutenberg-Gymnasium, um vor dem Eingang Blumen niederzulegen und Kerzen zu entzünden.

Blumenmeer vor den SchultürenBild: AP

Stellenweise türmen sich auf dem Vorplatz des Schulportals Blüten und Zweige meterhoch. Das Gutenberg-Gymnasium bleibt vorerst geschlossen. Die Spurensicherung werde auf jeden Fall noch bis in die neue Woche andauern, sagte ein Erfurter Polizeisprecher. Möglicherweise würden die Gutenberg-Schüler zunächst einmal auf andere Gymnasien der Stadt verteilt und dort betreut. Ein Mahnmal lehnen die Schüler ab. Schülersprecherin Michaela Seidel erklärt: "Wir wollen keine riesige Tafel, die uns alle daran erinnert. In dem Gebäude soll irgendwann mal wieder ein normaler Alltag möglich sein."

Psychologische Betreuung

Bild: AP

Rund 20 Diplom-Psychologen, Seelsorger und Betreuer kümmerten sich laut Polizei am Wochenende um die unsichtbaren Wunden, die das Verbrechen bei den scheinbar heil davongekommenen Schülern hinterlassen hat. Die Behörden verzeichneten Dutzende Anrufe von hilfesuchenden Kindern oder ihren Eltern. In einer Vielzahl von Fällen mussten die Experten hinzugezogen werden, darunter auch Fachleute für Kinderpsychologie.

Sechs der Spezialisten, die am Wochenende in Erfurt ihren schweren Dienst taten, gehörten laut Polizei zum bundesweit bekannten Münchner Kriseninterventionsteam. "Es ist von großer Bedeutung, dass die Betroffenen frühzeitig Hilfe von Fachleuten erhalten", betonte der Notfallpsychologe Guy Lucas. "Innerhalb der ersten 48 Stunden muss die so genannte 'psychische erste Hilfe' geleistet werden. Ziel ist dabei, den Menschen zu vermitteln 'Ihr seid jetzt sicher, Ihr seid aus der Situation raus'". Zwei Tage nach dem traumatisierenden Erlebnis sollte dann, so Lucas, unter Leitung eines Notfallpsychologen die Aufarbeitung des Geschehens beginnen - in schweren Fälle gefolgt von einer langfristig angelegten Traumatherapie.

Motiv des Täters noch unklar

Nach Angaben des Sprechers hatte der Amokläufer Robert S. einen "Hang zu Krieg- und Gewaltverherrlichung". Der 19-Jährige besaß entsprechende Comics und Videos. Für seinen Amoklauf kleidete er sich wie ein Ninja-Krieger ganz in Schwarz. Robert war Mitglied in einem Schützenverein. Der Umgang mit Waffen war für ihn normal. Wenig mehr ist über den Jugendlichen, der als unauffällig beschrieben wird, bisher bekannt. Der Mutter sei vor der Tat am Sohn nichts aufgefallen, sagte Ministerpräsident Bernhard Vogel. Um die Motive des Täters zu klären, soll nun auch sein 25 Jahre alter Bruder vernommen werden. Gegen ihn besteht nach Polizeiangaben aber weder ein Verdacht auf Mittäterschaft noch auf Mitwisserschaft.

Bereits am Samstagabend (27. April 2002) hatte die Polizei "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" ausgeschlossen, dass Robert S. einen Mittäter hatte. Hinweise auf einen zweiten Amokläufer waren aus den Reihen der Schüler des Gymnasiums gekommen. Einige hatten berichtet, dass während des Amoklaufs noch aus einer zweiten Richtung Schüsse gefallen seien.

Nach bisherigen Ermittlungen erschoss der Täter, der vor rund zwei Monaten wegen Urkundenfälschung von der Schule verwiesen worden war, seine Opfer aus nächster Nähe ohne Vorwarnung. Er hat gezielt Jagd auf Lehrer gemacht. Die beiden Schüler starben an Schüssen durch eine geschlossene Tür. Bei dem Blutbad waren am Freitag 16 Menschen getötet worden. Der ehemalige Schüler erschoss sich anschließend selbst. Von den weiteren zehn Verletzten schwebt keiner mehr in Lebensgefahr. Der Kunst- und Geschichtslehrer Rainer Heise hat möglicherweise ein noch größeres Blutbad verhindert. Es war ihm gelungen, den Amokläufer im Zeichensaal der Schule einzusperren, wo dieser sich kurz darauf das Leben nahm. Heise gilt seither als "Held von Erfurt".

Bild: AP

Beileidsbekundungen auch aus Politikerkreisen

Bild: AP

Bundeskanzler Gerhard Schröder besuchte das Gutenberg-Gymnasium am Samstagabend. Im Anschluss nahm er gemeinsam mit seiner Frau Doris und fast 5000 Trauernden an einem ökumenischen Gottesdienst im Dom teil. Bundesaußenminister Joschka Fischer kam am Sonntagmorgen (28. April 2002) nach Erfurt. Er trug sich ebenfalls in das Kondolenzbuch im Rathaus ein und legte Blumen vor der Schule nieder.

Der Opfer soll erneut am 3. Mai im Beisein von Bundespräsident Johannes Rau in einer zentralen Trauerfeier in Erfurt gedacht werden. Papst Johannes Paul II. versicherte den Angehörigen der Opfer und den Schülern seine tief empfundene Anteilnahme. Bundesinnenminister Otto Schily ordnete an, die Trauerbeflaggung an den Bundesbehörden in Thüringen bis zur Trauerfeier zu verlängern. In den Sportarenen der Fußball-Bundesliga war am Samstag eine Schweigeminute eingelegt worden.

Warum?

Begleitet von einer intensiven Suche nach dem Motiv für den Amoklauf hat bundesweit eine breite Diskussion über die Folgen des Verbrechens begonnen. Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter aus Gießen sagte, ein Amoklauf wie dieser sei nur äußerst schwer zu verhindern. Seine Tat habe der Mann sicherlich sehr sorgfältig geplant. (fro)

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