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Erinnerungen an die "Heimat"

Jochen Kürten1. Juli 2015

1984 verblüffte der deutsche Regisseur Edgar Reitz die Welt des Kinos bei den Filmfestspielen in Venedig mit einer elfteiligen Filmserie. Es sollte der Auftakt zu einer langanhaltenden Erfolgsgeschichte werden.

Heimat Filmstill Edgar Reitz Marita Breuer (Foto: (Mary Evans Picture Library)
Bild: picture-alliance/Mary Evans Picture Library

Anfang Juni diesen Jahres war sie schon einmal zu sehen an einem Wochenende in einem Münchner Kino, die neugeschnittene Kinofassung der ersten "Heimat" von Edgar Reitz aus dem Jahre 1984. Im Herbst kommt sie dann auch auf DVD und Blu-ray raus. Weil an den Filmrollen der legendären Fernsehserie, die vor 31 Jahren in Venedig Weltpremiere auf der großen Leinwand feierte, der Zahn der Zeit nagte, wurde sie vom Regisseur und einem Spezialisten-Team aufwendig digital restauriert.

Glanzpunkt deutscher Filmgeschichte

Damit ist ein filmischer Schatz aus Deutschland für die Zukunft gesichert. "Heimat" von Edgar Reitz gehört neben frühen Stummfilm-Meisterwerken deutscher Regiegrößen wie Fritz Lang und Friedrich Wilhelm Murnau und den Glanzlichtern des "Neuen Deutschen Films" aus den 1970er und '80er Jahren zu den Höhepunkten deutscher Filmgeschichte.

Inzwischen vielfach geehrt: Edgar Reitz; hier mit der Lola 2014, die er für seinen letzten Film "Die andere Heimat" erhieltBild: picture-alliance/dpa

Rückblick: Nachdem Edgar Reitz 1984 die erste "Heimat"-Staffel in Venedig präsentierte, war die Überraschung groß. Ein von Teilen der Kritik und den Zuschauern fast schon abgeschriebener Regisseur war plötzlich wieder auf der Landkarte des deutschen Kinos verzeichnet. Der Rest ist Geschichte. Acht Jahre später folgte der phänomenale zweite Teil der "Heimat", 2004 der dritte und schließlich 2013 der vierstündige Film "Die andere Heimat - Chronik einer Sehnsucht".

Panorama deutscher Historie

In den vielen Folgen und Einzelfilmen der "Heimat"-Serie hat dieser Regisseur nichts weniger als ein umfassendes und weit ausholendes Panorama der deutschen Geschichte des letzten Jahrhunderts geliefert. Reitz hat den gerade in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg scheinbar so problematischen Begriff "Heimat" auf eine neue Diskussionsgrundlage gestellt. Und er hat dem deutschen Nachkriegskino zu einem künstlerischen Höhepunkt verholfen, an den in seiner ästhetischen Qualität und seiner inhaltlichen Durchdringung des Stoffes nur wenig anderes heranreicht.

Geschichte von unten - wie der Nationalsozialismus Einzug hielt in der deutschen Provinz: Heimat (1984)Bild: picture-alliance/dpa/kpa

"Heimat" war Mitte der 1980er Jahre weit mehr als ein bedeutendes Ereignis im Kino. "Heimat" stieß eine breite gesellschaftliche Debatte an, forderte zahlreiche Intellektuelle zu Stellungnahmen auf und führte zu einer Neudefinition des Heimat-Begriffs hierzulande. Reitz selbst brachte es später so auf den Punkt: "Das Wort 'Heimat' ist an sich unschuldig. Dass reaktionäre Volkstümler oder die Nazis dieses Wort benutzt haben, darf uns nicht abschrecken. Im Gegenteil: Warum soll man es ihnen überlassen?" Man könne den Begriff nicht einfach als ideologisch abtun, so Reitz: "Nein, dieses Wort bezeichnet eine Realität, eine reale Erfahrung. Es ist in jedem Menschenleben verschieden; manch einer hat sich sehr weit entfernt oder muss erst Umwege gehen, doch ohne ein Verhältnis zu einer Heimat findet er keine Identität."

Neudefinition des Begriffs "Heimat"

Der Unterschied zum erfolgreichen Genre des deutschen Heimatfilms aus den 1950er Jahren könnte nicht größer sein. In den Jahren nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg sehnten sich die Zuschauer nach Orientierung. Der Holocaust sollte erst sehr viel später in TV und Kino Einzug halten. Im klassischen Heimatfilm der Nachkriegszeit ging es um Verdrängung und Weltflucht. Reitz stellte das Bild Deutschlands mit seiner Heimat-Version wieder vom Kopf auf die Füße, indem er Menschen statt historische Pappfiguren inszenierte, den scheinbar kleinen Dingen und vermeintlichen Nebensächlichkeiten mehr Raum einräumte als den großen historischen Umwälzungen.

Ensemblearbeit: Reitz mit dem Team der zweiten "Heimat" (1992)Bild: picture-alliance/kpa

Was Jahre später als "Geschichte von Unten" populär geworden sei, so der Publizist Thomas Koebner in seiner brandneuen Edgar-Reitz-Biografie, habe der Filmemacher mit seiner "Heimat" vorgemacht: "Edgar Reitz rekonstruiert nicht die an den Akten und Entscheidungen des Regierungshandelns ablesbare Historie (…), sondern ersinnt einzelne Lebensläufe (…): gekennzeichnet durch Jugend und Alter, Fremd-Selbstbestimmung, Aktivität und Passivität, Einsamkeit und Geselligkeit."

Geschichte von unten ...

In der ersten Staffel der "Heimat" sieht man also nicht Hitler und Konsorten in Nürnberg und Berlin aufmarschieren, sondern die Reaktionen der Hunsrück-Einwohner auf diese Ereignisse in der deutschen Provinz. In der zweiten Staffel erlebt der Zuschauer nicht die Taten und Aktionen der Baader-Meinhof-Gruppe in Frankfurt oder Berlin, sondern wiederum die Reaktionen einer Handvoll Studenten in München auf die Geschehnisse. Geschichte wird bei Reitz nicht zu einer puren Abbildung vermeintlich historischer und gesellschaftlicher Höhepunkte, sondern zur Darstellung der Lebenswirklichkeit ganz normaler Menschen.

Reitz am Set seines Films "Die andere Heimat - Chronik einer Sehnsucht" im Jahre 2013Bild: Concorde Filmverleih 2013/Christian Lüdeke

Gerade im Rückblick auf die letzten Jahrzehnte deutscher Film- und Fernsehgeschichte wird dies deutlich. In zahlreichen Werken, die später entstanden, wurde die deutsche Historie auf das reine Event reduziert. Die Filme des Produzenten Bernd Eichinger ("Baader-Meinhof-Komplex") oder die typischen Event-Movies des deutschen Fernsehens aus den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende ("Der Tunnel", "Dresden", "Die Flucht" etc.) sind Beispiele für ein oberflächliches der Melodramatik verpflichtetes hohles Geschichtskino und -fernsehen.

Blick auf die Ränder

Edgar Reitz setzte mit seiner Herangehensweise andere Schwerpunkte. Er hat keine Filme über Hitler oder Goebbels inszeniert, sondern über Mütter und Töchter im Hunsrück, über Studenten in München: "Niemals kann eine Figur den ganzen Raum für sich beanspruchen, denn das würde sie wieder zum dramatischen Instrument machen, das den anderen die Luft wegnimmt", beschrieb Reitz sein Konzept der Handlungs-Aufsplitterung in viele Nebenschauplätze.

Eine Art Fortsetzung der ersten drei Heimat-Staffeln: "Die andere Heimat - Chronik einer Sehnsucht"Bild: picture-alliance/Concorde Filmverleih/C. Lüdeke

"Was mich interessiert, war das Nachzeichnen von Biografien, waren die Spuren der Menschen in ihrer historischen Zeit", so Edgar Reitz: "Immer ging es in 'Heimat' um die Freude des Wiedersehens und die Trauer des Abschiedsnehmens." Geschichte wurde bei diesem Regisseur auf eine ganz andere Art nachvollziehbar, gerade auch für ein aufgeschlossenes, jüngeres Publikum. Aber auch für eine ältere Generation, der es 1984 um ein echtes Erinnern ging, wurde "Heimat" zur Offenbarung. "Heimat ist etwas Verlorenes", sagt Reitz, "hat mit Erinnerungen zu tun, mit Kindheit, mit den frühen Erfahrungen, die ein Mensch macht, und ist etwas, was man als Erwachsener immer auf eine sehnsüchtige Weise sucht.“

Der Reclam-Verlag hat gerade die drei Staffeln der Heimat von Edgar Reitz auf DVD herausgebracht: Heimat - Eine Filmreihe von Edgar Reitz, Gesamtedition auf 18 DVDs mit 48 S. Booklet, ISBN: 978-3-15-041022-6, 79,99 EUR. Ebenfalls bei Reclam liegt die neue Reitz-Biografie von Thomas Koebner vor: Edgar Reitz - Chronist deutscher Sehnsucht, ISBN: 978-3-15-011016-4, 26,95 EUR.


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