Der Mann reiste nicht, er träumte sich die Welt herbei: Ernst Ludwig Kirchners Bilder, Skulpturen und Graphiken feiern das Exotische fremder Kulturen, wie eine große Schau jetzt in Bonn zeigt. Titel: "Erträumte Reisen".
Anzeige
Bonn zeigt "den anderen" Ernst Ludwig Kirchner
Er suchte das Exotische und Ursprüngliche, nach anderen Ländern und Kulturen. Doch Ernst Ludwig Kirchner reiste kaum. Seine Bilder entstanden im Kopf. Leben und Werk des Künstlers sind jetzt in Bonn ausgestellt.
Bild: picture-alliance/dpa/akg-images
Die Mandolinistin 1921
Seine Mandolinistin mit den lila Beinen malte Kirchner im Jahr 1921 im schweizerischen Davos. Vier Jahre zuvor war er in die Berge gezogen, wo er auf Heilung von seinen Krankheiten hoffte - und auf breitere Anerkennung seiner Kunst. Letzterem half er mit einem Trick nach, der erst Jahre später aufflog: Unter dem Pseudonym Louis de Marsalle schrieb er wohlwollende Kritiken über seine Werke.
Bild: Kirchner Museum Davos
Alpleben 1917-1919
Das Gemälde "Alpleben" entstand in den Jahren 1917 bis 1919 und gehört zu einem Triptychon. Während der Entstehung des dreiteiligen Werks zog Kirchner in die Schweiz, in den Knochen noch die Spätfolgen des Ersten Weltkriegs, zu dem er sich als Freiwilliger gemeldet hatte, dessen Gräueln er psychisch aber nicht gewachsen war. Nun begeisterte er sich für die Schönheit der Bergwelt.
Bild: Kirchner Museum Davos
Badende Frauen 1915/1925
Von der Schönheit nackter Frauen handelt dieses Mittelbild eines Triptychons. Es entstand über den langen Zeitraum zwischen 1915 und 1925. Kurz bevor er damit begann, brach der Erste Weltkrieg aus. Kirchner meldete sich freiwillig zum Dienst. Doch schon nach wenigen Monaten versagten seine Nerven. Kirchner wurde beurlaubt. In dieser Zeit malte er düstere Selbstporträts - und die badenden Frauen.
Bild: Kirchner Museum Davos
Balkonszene 1935
Auch diese "Balkonszene" spielt in den Schweizer Bergen. Mitte der 1930er-Jahre, als das Bild entstand, war Kirchners Malstil bereits zunehmend flächiger geworden. Jetzt entwickelte er einen persönlichen, immer gegenständlichen, aber stark abstrahierenden Stil. Die "Balkonszene" zählt bereits zu Kirchners Spätwerk. Am 15. Juni 1938 setzte er seinem Leben mit einem Kopfschuss ein Ende.
Bild: Kirchner Museum Davos
Akt mit afrikanischem Hocker, 1912
Als Kirchner diesen Akt zeichnete, verbrachte er den Sommer auf Fehmarn und malte viele Küstenbilder. Der Hocker verweist auf schon auf die Hinwendung des Künstlers zum Imaginären. Statt selbst zu reisen, schlenderte Kirchner durch Völkerkundemuseen und berauschte sich an den Zeugnissen fremder Kulturen.
Bild: Kirchner Museum Davos
Akrobatenpaar 1932-1933
Mal formte er es zur Plastik, mal zeichnete oder malte er es - viele Male variierte Kirchner sein Motiv der in halsbrecherischer Verrenkung verharrenden Akrobatinnen. Die Version von 1932/33 bedient sich einer modernen, fast an den Jugendstil erinnernden Formensprache. Kurz darauf verboten die Nationalsozialisten Kirchners Werke als "entartet". Da lebte der Künstler bereits in der Schweiz.
Bild: Kirchner Museum Davos
Drei Akte im Walde 1933
Mit dem Motiv der spontanen, ungestellten Körperlichkeit bediente Kirchner eine weit verbreitete Sehnsucht seines zahlenden Publikums. Das verlangte nach dem romantischen Künstlerbild des 19. Jahrhunderts, das Rausch und Sinnenfreude zeigte, zugleich aber farblich wie technisch frei sein sollte - und das alles bitte aus der Staffelei eines Deutschen.
Bild: Kirchner Museum Davos
Selbstporträt 1913-1915
Wer war Ernst Ludwig Kirchner? Gewiss ein besessener Zeichner, der 1905 in Dresden die Künstlergruppe Brücke mitgründete, im Atelier und an den Moritzburger Seen Bilder befreiter Körperlichkeit einfing, der 1911 in den Moloch Berlin eintauchte und mit seinen Straßenszenen Ikonen des 20. Jahrhunderts schuf. Aber wohl auch ein um Anerkennung ringender Künstler, der dem Erfolg gelegentlich nachhalf.
Bild: Kirchner Museum Davos
8 Bilder1 | 8
Die Ausstellung in der Bundeskunsthalle versammelt rund 220 Werke Kirchners (1880-1938), Gemälde und Grafiken ebenso wie Skulpturen und Fotografien. Kirchner gründete 1905 die Dresdner Künstlergruppe "Brücke" mit. Die Nazis verfemten seine Kunst später als "entartet". Heute gilt Kirchner als einer der wichtigsten deutschen Expressionisten.
Das Gros der in Bonn gezeigten Werke entstammt dem Kirchner Museum im schweizerischen Davos. Dort hat Kirchner 20 Jahre seines Lebens verbracht. Hier entstand sein lange verschmähtes Spätwerk, eingebettet in eine grandiose schweizerische Bergwelt. Hier beendete der Künstler 1938 sein Leben mit einem Kopfschuss.
Farbfreude
Die Schau zeichnet Kirchners Schaffen anhand wichtiger Lebensstationen nach. So wird sichtbar, was ihn beschäftigte - die Frauen (in Dresden), die Stadt (in Berlin) und die Natur (in Davos). Allenfalls die Berliner Phase mit ihren berühmten Stadtansichten kommt etwas kurz.
Kirchners Gemälde sind schön anzusehen, denn sie strotzen vor Farbfreude. Doch damit nicht genug. Schon das wandfüllende Triptychon der "Badenden" am Eingang belegt Kirchners künstlerische Absicht: Der Reigen nackter Frauen spiegelt seine Suche nach dem Natürlichen und Spontanen.
Das Fremde als ästhetischer Anlass
Doch auch das Exotische zieht sich wie ein roter Faden durch Kirchners Werk: Mal sind das dunkelhäutige Menschen, mal ein afrikanischer Hocker, dann wieder eine Zeichnung nach einem Bronzerelief aus Benin. "Kirchner reiste nicht ", erklärt Kurator Thomas Sadowsky, "er war ein theoretisch Reisender." Zwar habe das Reisen damals zum Selbstbild des modernen Künstlers gehört. Doch Kirchner schlenderte lieber durch Völkerkundemuseen und besuchte Völkerschauen. So begegnete er dem Fremden und nahm dies, wie Sadowsky sagt, zum "ästhetischen Anlass". Weiter als bis in die Schweiz oder Fehmarn indes kam er nicht.
Mit Gemälden, Skizzenbüchern und Skulpturen huldigt die Bonner Ausstellung schließlich auch dem farbtriefenden Spätwerk Kirchners. Es ergötzt sich an den Naturschönheiten der Bergwelt wie auch der alpinen Schweizer Volkskultur. Der Künstler schlägt in dieser Phase neue Wege ein, versucht sich in flächiger Malerei, die Anleihen bei Künstlerkollegen wie Picasso nimmt. Und er schreibt, wie erst viel später bekannt wurde, unter dem Pseudonym eines erdachten Kritikers, wohlwollende Kritiken über seine Kunst. "Wir möchten hier den anderen Kirchner zeigen", sagt die Ko-Kuratorin Katharina Beisiegel vom Art Centre Basel. Einen spannenden Blick auf den Expressionisten erlaubt die Bonner Schau allemal.