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Nach Corona kam die Flut: Hotspot Heinsberg

18. Juli 2021

Im Westen Deutschlands gab es im Februar 2020 den ersten großen Corona-Ausbruch, nun kam auch noch das Hochwasser. Die Menschen in Heinsberg: erschöpft, aber mit Mitgefühl für andere. DW-Reporter Oliver Pieper berichtet.

Nach dem Unwetter in Nordrhein-Westfalen I Kreis Ophoven - Heinsberg
Land unter in Ophoven im Kreis HeinsbergBild: Thomas Banneyer/dpa/picture alliance

Wenn jemand vom Pech verfolgt ist in Ophoven im Kreis Heinsberg, dann ist es wohl Mario Girardi. 18 Jahre lang führte der Italiener erfolgreich im 20 Kilometer entfernten Erkelenz das Restaurant "Dolce Vita", dann übernahm er im März 2020 in Ophoven die Gaststätte "Zur Mühle". Beste Lage, Platz für 80 Gäste, scheinbar ein wahrer Glücksgriff.

"Es dauert bestimmt ein paar Wochen, bis ich mein Restaurant wieder öffnen kann" - Mario GirardiBild: Oliver Pieper/DW

Knapp eine Woche hatte Girardi geöffnet, dann kam Corona - das ebenfalls zum Kreis Heinsberg gehörende Gangelt war nach einer Karnevalsfeier der erste Hotspot Deutschlands. Monatelang konnte er sich mit seinem Restaurant sprichwörtlich irgendwie über Wasser halten, vor einer Woche schien Fortuna endgültig zurückgekommen zu sein: Italien wurde Fußball-Europameister. Bis der Freitag kam. Und die Flut hereinschwappte.

"Am Freitag hatte ich tagsüber noch geöffnet, und dann haben wir schon gesehen, wie das Wasser die Straße entlangfloß. Wir haben überall Sandsäcke verteilt, aber das Wasser kam dann über den Hinterausgang in die Kegelbahn und die Küche."

Spät am Abend wurden alle 700 Einwohner von Ophoven wegen eines Dammbruchs der Rur evakuiert. Auch Gerardi musste sein geliebtes Restaurant verlassen, am nächsten Morgen bekam er den Anruf, dass die Gaststätte 40 Zentimeter unter Wasser stand. Seitdem haben er, die Feuerwehr und die unzähligen Helfer die Schlammbrühe bis zur Erschöpfung fast komplett abgepumpt.

"Wir haben hier im Großen und Ganzen viel Glück gehabt", sagt Girardi, "in anderen Teilen Deutschlands sind Menschen gestorben und Häuser komplett zerstört worden. Das tut mir in der Seele weh".

Herkulesarbeit nicht nur für die Feuerwehr

Dass Ophoven nochmal mit einem blauen Auge davongekommen ist, hat auch mit dem unermüdlichen Einsatz von Feuerwehrleiter Holger Röthling und seinem Heer aus freiwilligen Helfern zu tun. "Wir haben hier im Kreis über 30.000 Sandsäcke gefüllt und platziert. Es waren Unmengen an Menschen, die diese Tage mit angepackt haben."

Sandsäcke gegen die Flut - Ophoven nach der HochwasserkatastropheBild: Oliver Pieper/DW

Röthling sitzt abgekämpft in der Feuerwehrzentrale, die letzten Tage hat er kaum ein Auge zugemacht. Das Wasser geht langsam zurück, deswegen macht sich auch bei ihm ein Gefühl der Entspannung breit. Er ist zuversichtlich, dass die Menschen bald wieder alle in ihre Häuser zurückkönnen.

"Vor elf Jahren haben wir schon mal Sandsäcke gestapelt, aber nicht in dem Ausmaß wie bei dieser Flut" - Holger RöthlingBild: Oliver Pieper/DW

"Wenn wir die nächsten Tage das Wasser aus den Straßen bekommen, kontrollieren wir Haus für Haus, wie viel Wasser noch drin ist. Das Problem sind die Ölheizungen, wo das Öl ausgelaufen ist", sagt Röthling, "das können wir nicht so einfach abpumpen. Da müssen Spezialfirmen kommen, die das absaugen."

Bürgermeister Maurer als Krisenmanager

Verlässt man die Feuerwehrzentrale durch den Inneneingang, landet man praktischerweise direkt bei der Stadt Wassenberg und Bürgermeister Marcel Maurer. Kurze Wege, welche die Kommunikation in so einem Katastrophenfall spürbar erleichtern. Maurer war es, der mit dem Krisenstab die Entscheidung fällte, Ophoven sicherheitshalber zu evakuieren.

"Sie wissen nie, wann ein Damm weiter bricht, dann haben Sie ein ganz anderes Szenario" - Marcel MaurerBild: Oliver Pieper/DW

Es ist die erste harte Bewährungsprobe für den vor einem knappen Jahr gewählten Bürgermeister, der wegen der bedrohlichen Lage sofort seinen Urlaub abbrach. "Wir haben vor allem das Umspannwerk massiv geschützt, von dem die ganze Stromversorgung von Wassenberg abhängt. Wenn wir das wegen der Überflutung hätten abschalten müssen, wären hier buchstäblich für bis zu 10.000 Menschen die Lichter ausgegangen."

Maurer ließ eine Grundschule flugs zur Notunterkunft umfunktionieren - dort fanden die 29 Menschen Platz, die weder Freunde noch Familie in der Umgebung hatten. "Man wird von einer Minute auf die andere zum Krisenmanager, es ist momentan schon eine sehr anspruchsvolle Zeit", sagt er.

In Ophoven waren auch viele Traktoren im Einsatz - sogar aus Münster kamen die TreckerBild: Thomas Banneyer/dpa/picture alliance

Ophoven ist in diesen Tagen auch ein gutes Beispiel für die Solidarität, die keine Entfernung kennt. Dutzende, die mit schwerem Gerät kamen. Hunderte, die Sandsäcke schleppten. Oder die Landwirte aus dem 200 Kilometer entfernten Münster, die sich mit ihrem Traktor in einer Nacht- und Nebelaktion auf dem Weg ins Krisengebiet machten.

Flut stellt deutsch-niederländisches Verhältnis auf Probe

Gleichzeitig ist die 700-Seelen-Gemeinde aber auch der Inbegriff eines mangelhaften Hochwasserschutzes. Noch vor einem Jahr hatten Experten des zuständigen Wasserverbandes versichert, ein Hochwasser würde an Ophoven vorbeifließen. Marcel Maurer will den Bau eines neuen Deiches, der wegen der Expertenmeinung im August 2020 abgelehnt worden war, nun forcieren.

Wie kam es zur Flutkatastrophe? – Hydrologe Bruno Merz im Gespräch

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Die schwierigste Aufgabe neben dem Wiederaufbau könnte für den Bürgermeister aber die Normalisierung der deutsch-niederländischen Beziehungen sein. Einen guten Kilometer ist es von Ophoven zur Grenze, die Rur mündet bei Roermond in den Niederlanden in die Maas, die auch von Hochwasser betroffen ist.

Die niederländischen Behörden hatten wegen der Flut eine Schleuse der Rur geschlossen, plötzlich stand aus Deutschland der Vorwurf im Raum, der Dammbruch sei damit provoziert worden. Nach Berechnungen des Deichverbandes Limburg gebe es aber keinen Zusammenhang, und auch Maurer ist sichtlich bemüht, die Wogen zu glätten: "Die Niederländer schützen ihre Städte nach bestem Wissen und Gewissen, ich hätte das in der Situation genauso getan. Wir pflegen hier im Grenzgebiet eine sehr freundschaftliche Nachbarschaft, es ist jetzt nicht die Zeit für Schuldzuweisungen."