Pionierin des Kinos: Regisseurin Alice Guy
15. August 2019Auch das ist ein Ergebnis der Diskussion von #MeToo und Geschlechtergerechtigkeit beim Film: Alice Guy (1873 - 1968) kann wieder entdeckt werden. Jetzt zum Beispiel in Bonn beim größten deutschen Stummfilmfestival. Dort werden einige Filme der französischen Kinopionierin auf großer Leinwand mit Live-Musikbegleitung vor tausenden Zuschauern gezeigt.
"Dass man sich jetzt in der #MeToo-Debatte und mit einem größeren Bewusstsein für diese Themen, intensiver mit Alice Guy beschäftigt, hat dazu geführt, dass ihr wesentlich mehr Filme zugeschrieben werden, die in der Frühzeit des Kinos männlichen Kollegen zugeschrieben worden sind", sagt Stefan Drößler, Leiter des Münchner Filmmuseums. Drößler kuratiert seit vielen Jahren das renommierte Festival in Bonn und hat auch in den Vorjahren schon Filme von Alice Guy im Hofgarten der Bonner Universität gezeigt.
Erst 2019 laufen manche Filme der Regisseurin unter ihrem Namen
Bei manchen der dort präsentierten Filme hatte Drößler selbst nicht gewusst, dass Alice Guy einst auf dem Regiestuhl saß. Er nennt ein Beispiel: "Der Film 'Die Frühlings-Fee', den wir 2019 zeigen, wurde letztes Jahr schon in Bonn vorgeführt. Da war er aber noch gar nicht als Alice-Guy-Film registriert worden." Jetzt wurde "Die Frühlings-Fee" ("La Fée aux Choux") mit Hilfe neuester digitaler Techniken restauriert und läuft wieder in Bonn - diesmal allerdings als ein Film von Alice Guy.
Die Filme aus den Anfangsjahren des Kinos hätten noch keine richtigen Credits wie heute üblich gehabt, erzählt Drößler, lediglich einen Filmtitel. In den Gründerjahren der siebten Kunst seien Filme sehr schnell, wie am Fließband, entstanden. Später hätte man dann versucht, sie bestimmten Filmemachern zuzuordnen. Und das waren dann eben fast ausschließlich Männer.
Alice Guy erlebte die Pionierzeit des Kinos hautnah mit
Mit Hilfe der Digitalisierung, intensiver Recherche und einem anderen Bewusstsein für die Leistung von Frauen in den Anfangsjahren des Kinos werden nun aber manche Filme neu zugeordnet. Auch jene von Alice Guy. Die gilt als frühe Pionierin des Kinos. Ihre Biografie ist eigentlich seit langem gut bekannt: 1873 im Osten von Paris geboren, wurde sie mit Anfang 20 Sekretärin bei einer Kamera- und Fotografie-Manufaktur und begegnete dem damals ganz neuen Medium Film.
Sie wohnte ersten Projektionen der Kinopioniere Auguste und Louis Lumière in Paris bei und wechselte den Arbeitgeber: Der hieß nun "L. Gaumont" - und ließ Filme produzieren. Auch Alice Guy durfte dort inszenieren. Und sie war offenbar erfolgreich. Manche Filmhistorikerinnen schreiben ihr sogar die Regie des allerersten Spielfilms zu. Das ist allerdings umstritten. In den folgenden Jahren leitete Guy Produktion bei Gaumont und etablierte sich mit den damals üblichen kurzen Genrefilmen. Sie inszenierte Abenteuerstreifen, Western, Komödien. 1906 realisierte sie die Großproduktion "La Vie du Christ" mit hunderten Statisten.
Alice Guy setzte sich selbstbewusst für die Rechte der Frauen beim Film ein
Guy interessierte sich früh für alle Aspekte der Filmherstellung: "Es war für mich eine lange Zeit ein Quell der Verwunderung gewesen, dass nicht viel mehr Frauen die wunderbare Gelegenheit ergriffen haben, die ihnen die Filmkunst bot, um als Filmregisseurin ihren Weg zu Ruhm und Glück zu machen", schrieb Alice Guy später in einem Beitrag für das amerikanische Journal "Moving Picture World". Da arbeitete sie schon in den USA.
Guy experimentierte schon früh mit Ton und Farbe: "Von allen Künsten gibt es wahrscheinlich keine, in der sie (die Frauen, Anm.d.Red.) solch hervorragenden Gebrauch von Talenten machen können, die ihnen viel mehr zu eigen sind als einem Mann, und die zur Perfektion dieser Kunst so notwendig sind", gab sie selbstbewusst zu Protokoll.
Auch die "technische Seite" war für Guy eine Selbstverständlichkeit
Und nicht nur das. Insbesondere dem Umgang mit den technischen Abläufen der frühen Filmproduktion stand sie nah: "Es gibt nichts im Zusammenhang mit der Inszenierung eines Filmes, was eine Frau nicht ebenso leicht wie ein Mann machen könnte, und es gibt keinen Grund, warum sie nicht jede technische Seite dieser Kunst vollkommen meistern könnte." Filmtechnik sei ein "geeignetes Feld für weibliche Aktivitäten", war sie überzeugt. Kühne Worte im Jahre 1914!
Guy realisierte mehrere hundert Filme als Regisseurin und Produzentin. 1907 heiratete sie den Kameramann Herbert Blaché, ging mit ihm nach Amerika: Als Alice Guy-Blaché ging sie dann auch in die Filmhistorie ein. 1910 gründete die Französin eine eigene Produktionsfirma, die "Solax". Alice Guy galt Jahrzehnte als einzige Frau an der Spitze eines amerikanischen Filmstudios.
Guy geriet in Vergessenheit - auch wegen männlicher publizistischer Dominanz
Zu Beginn der 1920er Jahre zog sie sich nach mehreren Misserfolgen vom Filmgeschäft zurück, ließ sich scheiden und ging mit ihren beiden Kindern zurück nach Frankreich. Dort verschwand der Name Alice Guy für viele Jahre aus dem Bewusstsein der Filmgeschichtsschreibung. "Die klassische Cinephilie ist sehr männergeprägt", sagt Stefan Drößler und verweist auf die Tatsache, dass über 90 Prozent der Filmhistoriker Männer gewesen seien: "Selbstverständlich hat diese Filmgeschichtsschreibung Frauen wenig beachtet."
Für ihn sei es "absolut verwunderlich, wie jahrzehntelang das Schaffen von Filmschaffenden so wenig erforscht worden ist, während man das bei anderen sehr gut gemacht hat." Das sei, so Drößler, "überproportional, wenn man sich Frauen anschaut."
Bei einem französischen Frauenfilmfestival in den 1970er-Jahren begann die langsame Wiederentdeckung der Alice Guy. Sie selbst erlebte das nicht mehr. Alice Guy starb 1968 im Alter von 95 Jahren. Erst nach ihrem Tod wurden ihre Memoiren veröffentlicht. In den Folgejahren begaben sich verschiedene Dokumentarfilmerinnen auf Spurensuche und näherten sich dem Werk der französischen Filmpionierin an. Festivals organisierten Retrospektiven.
Heute erkennt man einen Alice-Guy-Stil in einigen ihrer Filme
Ihr wurde ein eigener Stil zugestanden, ein filmisches Vermächtnis. Das ist heute fest verankert in der Filmhistorie - wenn auch immer noch wenig bekannt: "Jetzt, wo man mehr über Alice Guy weiß, findet man natürlich bestimmte Motive in ihren Filmen," sagt Drößler. Es führt dazu, dass ein Film wie "Frühlings-Fee" eben als ein Alice-Guy-Film wiederentdeckt wird.
Und es gibt weitere Beispiele, die nun in Bonn vor großer Kulisse zu sehen sein werden: Wenn in frühen Stummfilm-Western ("Zwei kleine Ranger"/"Two Little Rangers") plötzlich Frauen mit Waffen herumlaufen und Jagd auf Filmbösewichte machen, wenn einen schwangere Frau durch eine Stadt läuft, dabei einen gewaltigen Heißhunger entwickelt und anderen das Essen vom Teller klaut ("Madame in Nöten"/"Madame a des Envies"), dann wird ersichtlich, dass "weibliche Motive" schon früh Einzug hielten in der Filmgeschichte.
Umkehrung der Geschlechterrollen auf der Leinwand
Besonders originell wurde das von Alice Guy in "Emanzipation der Frauen"/"Les Résultats du Féminisme" in Szene gesetzt. Stefan Drößler: "Der Film zeigt Szenen, in denen die Geschlechterrollen einfach verkehrt sind: Wir sehen Männer und Frauen mit den 'typischen' Verhaltensweisen, die man dem anderen Geschlecht immer zuschreibt."
Es werden häusliche Szenen gezeigt, in denen Männer bügeln und waschen, sich um die Kinder kümmern. Die Frauen hingegen betreten als "Pascha" die Szene, rauchen Zigarren, lesen die Zeitung und lassen sich bedienen. Auch auf der Straße werden diese vertauschten Rollen fortgesetzt: Frauen verführen Männer, Männer laufen verschreckt weg, wenn sich Frauen nähern.
Die 35. Ausgabe des Stummfilmfestivals in Bonn findet vom 15. - 25. August statt, im September werden einige der Filme, auch die von Alice Guy, im Münchner Filmmuseum gezeigt.