1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

Russlands geleugneter Angriff auf Zivilisten

26. April 2022

Das russische Militär nimmt die ukrainische Hafenstadt Odessa ins Visier. Zivile Opfer der Raketenangriffe verschweigt Moskau. Seitdem wenden sich auch russischsprachige Ukrainer endgültig von Moskau ab.

Ukraine-Krieg Angriff in Odessa
Bewohner am 23. April neben ihren Häusern, die durch russischen Beschuss beschädigt wurdenBild: Max Pshybyshevsky/AP/dpa/picture alliance

"Es gleicht einem Wunder, dass Olexij lebt", erzählt der 20-jährige Mychailo aus Odessa. Gerade war er bei seinem Freund Olexij Paradowski im Krankenhaus. Olexij wurde notoperiert, denn an weiten Teilen seines Oberkörpers erlitt er schwerste Verbrennungen. Er war im Bad, so hat er seinem Freund berichtet, als am Samstag gegen 14.30 Uhr Ortszeit eine russische Rakete in das mehrstöckige Wohnhaus einschlug.

"Er wurde unter Trümmern begraben, aber er erwachte nach kurzer Bewusstlosigkeit und schaffte es raus aus seiner zerstörten Wohnung. Er schlug sich bis zu Tiefgarage durch, wo herbeigeeilte Nachbarn seine glühende Kleidung löschten und ihm erste Hilfe leisteten", berichtet Mychailo im Gespräch mit der DW, wie sein Freund den Angriff überlebte.

Unbewohnbar: So sieht die Wohnung von Olexij aus, der mit Verbrennungen im Krankenhaus liegtBild: Privat

Um die teure Behandlung seines früheren Schulkameraden Olexij zu finanzieren, sammelt Mychailo Spenden. Umgerechnet mehr als 7000 Euro gingen innerhalb von eineinhalb Tagen auf seinem Konto ein - eine riesige Summe für ein Land, dessen Wirtschaft gerade im Krieg zerstört wird.

Familien waren zum Osterfest nach Odessa gekommen

Der Schock nach dem russischen Angriff am Karsamstag des orthodoxen Kalenders sitzt tief. "Rechtzeitig zum Osterfest waren viele Familien nach Odessa zurückgekehrt. Wochenlang hatten sie sich vor einem drohenden russischen Angriff auf dem Land oder in der Westukraine versteckt. Aber Odessa blieb lang von russischen Bombenangriffen verschont, darum wähnten viele sich in Sicherheit", sagt der Student Mychailo. Die Front verläuft mehr als 100 Kilometer östlich von Odessa.

Blieben in den ersten Kriegswochen überwiegend ältere Menschen in der verwaisten Stadt, so traf der fatale Raketenangriff am vergangenen Samstag nun viele Familien. Eine Frau mit einem dreimonatigen Baby und ein frisch verheiratetes Ehepaar, das gerade ein Kind erwartete, sind Odessas erste zivile Opfer nach zwei Monaten Krieg. Acht Tote, rund ein Dutzend Schwerverletzte, so die ukrainische Regierung, seien die traurige Bilanz dieses russischen Angriffs auf ein Wohnhaus.

Zwischen Trümmern: Unterstützung durch einen Notfallhelfer nach dem Raketenangriff auf OdessaBild: State Emergency Service of Ukraine/AFP

"Ein schrecklicher Schlag", sagt Viktor Jorsch der DW. Der Raketeneinschlag erschütterte das Gebäude, als er in seiner Wohnung gerade Mittagspause machte. Viel Zeit für ein Gespräch hat Jorsch nicht. Zusammen mit vielen Helfern beseitigt der Hausmeister zwei Tage nach dem Angriff die letzten Trümmer rund um das Haus. "30 bis 40 Wohnungen in unserem Haus wurden zerstört oder beschädigt."

Das angebliche Ziel des Angriffs: ein Militärflughafen

Moskau leugnet, dass der Raketenangriff auf Odessa zivile Opfer gefordert hat. Offiziellen russischen Angaben zufolge zielte der Schlag auf einen Militärflughafen, der mit "Hochpräzisionsraketen" getroffen worden sei. Kein Wort von russischer Seite über die Folgen dieses Angriffs für die Zivilbevölkerung. Das getroffene Haus liegt rund eineinhalb Kilometer südöstlich vom Militärflughafen Schkilnyj. Das passt zu den Angaben des ukrainischen Militärs, wonach mehrere russische Raketen aus südöstlicher Richtung vom Kaspischen Meer aus abgefeuert wurden.

Wie präzise eine russische Rakete aus tausenden Kilometern Entfernung sein kann, können selbst Experten nicht einschätzen. Ein hohes Risiko ziviler Opfer oder sogenannte "exzessive Kollateralschäden", wie es im humanitären Völkerrecht heißt, müssten russische Militärs wohl in Kauf nehmen. Ein Blick auf Google Maps zeigt, dass der Militärflughafen direkt an belebte Wohnviertel grenzt: Etliche Wohnblöcke, ein Einkaufszentrum samt Kino, Streichelzoo und Indoor-Spielplatz, ein Baumarkt und ein Kloster befinden sich nur wenige hundert Meter vom Flughafengelände entfernt.

So wie Olexijs Wohnung, hier im Bild, wurde auch die Wohnung der 23-jährigen Olga völlig zerstörtBild: Privat

Die 23-jährige Olga, deren Wohnung beim Raketenangriff schwer beschädigt wurde, glaubt nicht an einen "Kollateralschaden". "Die Russen wollen Panik in Odessa auslösen. Sie sind bereit, uns auszulöschen, wie sie es bereits mit den Einwohnern von Mariupol getan haben", so die junge Kleinunternehmerin im Gespräch mit der DW. Sie ist mit leichten Schnittwunden davongekommen. "Ich stand in der Küche und kochte Eier, als die Rakete die Nachbarwohnungen getroffen hat. Die Sirene heulte zehn Minuten lang, ich habe sie einfach leichtsinnig ignoriert. Es ist bis dahin ja immer gutgegangen. Hätte ich mich stattdessen im Bad versteckt, wäre ich schon tot. Es traf genau die andere Seite meiner Wohnung."

"Ich werde kein Russisch mehr sprechen"

Student Mychailo ist stolz auf seinen Freund Olexij, der schwer verletzt im Krankenhaus liegt. "Er ist ein Held. Es ist unglaublich, wie er sich trotz schwerer Verbrennungen aus den Trümmern retten konnte." Wie viele andere Menschen in Odessa ist Mychailo wütend auf die russischen Angreifer. "Ich werde, wie viele meiner Freunde auch, mein Leben lang nichts Gutes für die Menschen in Russland übrig haben. Ich bin mit der russischen Sprache aufgewachsen, wie die Mehrheit der Einwohner von Odessa. Aber das, was die Russen machen, ist ein Schock für uns alle", so der 20-Jährige. "Ich will künftig nur noch Ukrainisch sprechen. Ich will mit Russland nichts mehr zu tun haben, nicht einmal eine gemeinsame Sprache."

Odessa bereitet sich auf Angriff vor

02:30

This browser does not support the video element.

Er nennt es perfide, dass Russland den Schutz der russischsprachigen Bevölkerung als Vorwand für den Krieg nimmt. Wie viele in Odessa blickt er mit Sorge in die Zukunft. Immer öfter bezeichnen offizielle Stimmen in Moskau Odessa als nächstes Ziel der Invasion in die Ukraine. "Wir werden Odessa verteidigen", schwört Mychailo. Er macht die vielen Russen, die der Propaganda ihrer Staatsführung glauben, mitverantwortlich für diesen Krieg.

Dass aber längst nicht alle in Russland der Staatspropaganda folgen, zeigt unter anderem eine Videobotschaft des populären russischen Komikers und Moderators Maxim Galkin. "Russland hat sich inzwischen so vieles zuschulden kommen lassen. Und sagt immer wieder, wir seien unschuldig. Massaker in Butscha? Das waren wir nicht. Die abgeschossene Boeing der Malaysia Airlines? Das waren wir nicht. Mariupol dem Erdboden gleichgemacht - das waren wir ebenfalls nicht. Rakete auf Odessa - wir doch nicht! Aber was machen wir denn überhaupt in der Ukraine?" So hinterfragt Galkin, der inzwischen im Exil in Israel lebt, die russische Argumentation. Sein Video wurde hunderttausendfach geteilt.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen

Mehr zum Thema

Weitere Beiträge anzeigen