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PolitikEuropa

Ukraine auf dem Weg in die EU

17. Juni 2022

Schneller als jemals zuvor hat die EU-Kommission die Aufnahme eines neuen Mitglieds befürwortet. Nur dreieinhalb Monate nach dem russischen Überfall nimmt die Ukraine die erste von vielen Hürden zum Beitritt.

EU-Ukraine-Gipfel in Brüssel
Bild: Ye Pingfan/Photoshot/picture alliance

In rekordverdächtiger Geschwindigkeit hat die EU-Kommission eine Empfehlung für den EU-Beitritt der Ukraine und Moldaus abgegeben. Georgien bleibt zunächst außen vor. Nur wenige Tage nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine Ende Februar hatten die drei Staaten ihren Beitritt zur EU beantragt.

Dreieinhalb Monate später hat die EU-Kommission nach einer ersten Prüfung von tausenden Seiten eingereichter Dokumente dem Rat der 27 Mitgliedsstaaten empfohlen, der Ukraine und Moldau den "Kandidatenstatus" zu verleihen. Bestätigen könnte der Rat diesen ersten wichtigen Schritt mit einstimmigem Beschluss beim nächsten Gipfeltreffen Ende Juni. Dass es so kommen wird, daran bestehen nur noch wenig Zweifel, nachdem sich am Vortag die Regierungschefs der größten drei Mitgliedsstaaten, der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Italiens Ministerpräsident Mario Draghi, bei ihrem Besuch in Kiew zustimmend geäußert hatten.

Ukraine schon weit fortgeschritten

Ursula von der Leyen, die Präsidentin der EU-Kommission, sagte, die Ukraine habe ganz klar gezeigt, dass sie europäische Werte achten und Standards erfüllen wolle. Der Krieg zeige, dass "die Menschen bereit sind für die europäische Werte zu sterben", sagte von der Leyen. "Die Ukraine verdient den Kandidatenstatus. Der Beitrittsprozess wird von Leistung gesteuert. Die Ukraine hat es jetzt in ihren eigenen Händen ihre Zukunft zu formen."

Die Kommissionspräsidentin lobte die robuste Demokratie in der Ukraine und die leistungsfähige Verwaltung, die selbst unter dem Stresstest des russischen Angriffs funktioniere. In den letzten Jahren habe die Ukraine schon 70 Prozent der Regeln der EU übernommen.

Beschleunigt der Ukraine-Krieg den Beitrittsprozess?

Frühere Bewerber hatten den Kandidatenstatus erst nach Jahren erhalten. Dafür verlangte die EU eine Reihe politischer und wirtschaftlicher Reformen von den Bewerbern. Doch diesmal geht alles geradezu in politischer Lichtgeschwindigkeit voran, weil der russische Krieg gegen die Ukraine die geopolitische Lage dramatisch verändert hat.

Ursula von der Leyen (li.) bei ihrem jüngsten Besuch in Kiew: Zusagen für Präsident SelenskyjBild: Natacha Pisarenko/AP Photo/picture alliance

Die Ukraine und Moldau werden von Russland entweder angegriffen oder bedroht und suchen deshalb Schutz in der Europäischen Union. Georgien leidet zwar auch unter russischer Aggression, erfüllt aber auch Sicht der EU-Kommission noch nicht die wesentlichen Kriterien für einen Kandidatenstatus, wie etwa eine gefestigte Demokratie. Georgien habe aber eine europäische Perspektive, sobald es politische Reformen umsetze, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: "Sie können durch die offene Tür kommen."

Im Windschatten der Ukraine erhält auch Moldau den Kandidatenstatus: Präsidentin Maia Sandu vor dem EuropaparlamentBild: John Thys/AFP/Getty Images

"Der Krieg in der Ukraine hat den europäischen Ansatz bei der Erweiterung umgekrempelt", meint Pierre Morcos. Er forscht in der Denkfabrik "Center für strategische und internationale Studien” in Washington. "Lange Zeit als rein technischer Vorgang begriffen wird die Erweiterungspolitik jetzt als ein geopolitisches Werkzeug verstanden, das ein strategisches Vorgehen verlangt." Die Präsidentin Moldaus, Maia Sandu, teilt diese Ansicht und sagte bei der Antragstellung für den Beitritt: "In der gegenwärtigen schwierigen Situation müssen wir schnell und klar handeln, um eine europäische Zukunft, Freiheit und Demokratie für unsere Bürger zu gewährleisten."

Keine Überholspur für Ukraine und Moldau

Den sofortigen Beitritt, den der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kurz nach dem russischen Überfall verlangt hatte, wird es allerdings nicht geben. In Artikel 49 der EU-Verträge ist eindeutig geregelt, dass es zunächst eine Verhandlungsphase, einen Beitrittsvertrag, die Zustimmung aller 27 Mitgliedsländer zu diesem Vertrag und eine anschließende Ratifizierung in den Parlamenten geben muss. Dieser Prozess kann noch Jahre dauern, denn ein Bewerber muss eine Reihe von Kriterien erfüllen, was sein politisches System, die Rechtsstaatlichkeit und die Fähigkeit angeht, das umfangreiche EU-Recht anzuwenden.

Am schnellsten hat bislang Finnland dieses Beitrittsverfahren hinter sich gebracht - in nur drei Jahren. Die Türkei verhandelt seit 2005, bisher ohne greifbares Ergebnis, weil wegen der autokratischen Entwicklung im Land kein einziges Verhandlungskapitel abgeschlossen werden konnte.

Ermutigung in Kiew am Donnerstag: Vier EU-Staaten wollen die Ukraine als Mitglied - irgendwannBild: Ludovic Marin/AP/picture alliance

Der französische Präsident Emmanuel Macron hat schon vor Wochen vorsorglich darauf hingewiesen, dass Verhandlungen mit der Ukraine, die jetzt unter einer dramatischen Wirtschaftskrise und den Kriegsfolgen leidet, Jahre oder Jahrzehnte dauern können. Macron schlägt als Zwischenschrift erst einmal eine Art aufgepeppte politische Partnerschaft mit Kiew vor. Auch deutsche EU-Diplomaten sind keine Fans von einem schnellen Beitritt, denn auch die EU müsse "aufnahmefähig” sein und ihre Institutionen und Entscheidungswege an eine wachsende Zahl von Mitgliedern anpassen.

Und die Kandidaten auf dem westlichen Balkan?

Der Kandidatenstatus, den die Ukraine und Moldau beim EU-Gipfel am 23. Juni voraussichtlich erhalten, bedeutet immerhin, dass die EU ernsthaft vorhat, die beiden Länder irgendwann aufzunehmen und Verhandlungen über die 35 Verhandlungskapitel aufzunehmen. Damit sind sie bereits an Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo auf dem westlichen Balkan vorbeigezogen. Bosnien-Herzegowina hat zwar 2016 die Mitgliedschaft beantragt, aber bis heute keinen Kandidatenstatus, weil die staatlichen Institutionen nicht funktionieren. Kosovo, das nicht von allen Staaten der EU anerkannt wird, hat noch nicht einmal einen Beitrittsantrag stellen können. 

Mit den Kandidaten Albanien und Nord-Mazedonien sollen Verhandlungen aufgenommen werden. Im Moment blockiert aber das EU-Mitglied Bulgarien diesen Schritt, weil es kürzlich Probleme mit der nordmazedonischen Sprache und bei kulturellen Fragen entdeckt hat. Serbien und Montenegro verhandeln über einen Beitritt, mit langsamen Fortschritten. Der Außenminister von Österreich, Alexander Schallenberg, verlangte in einem Interview, gleichzeitig mit dem Beschluss zur Ukraine müssten auch die Verhandlungen mit den Ländern auf dem Balkan neuen Schwung bekommen.

Der Kandidat Türkei ist am widerspenstigsten. Vor 35 Jahren hat das Land die Mitgliedschaft beantragt. Heute sind die Beitrittsverhandlungen de facto eingefroren, weil Präsident Recep Tayyip Erdogan eine sinnvolle Kooperation verweigert. 

Probleme in der EU

Die Erfahrung zeigt, dass der Beitrittsprozess, der für die Ukraine und Moldau beginnen könnte, nicht in Beton gegossen ist. Die EU ist je nach Bewerber flexibel, was die Kriterien angeht. Da alle Mitgliedsstaaten jedem Verhandlungsschritt zustimmen müssen, können alle möglichen Hindernisse und Bedenken im Laufe der Jahre auftauchen. Einen Fehler will die EU aber nicht wiederholen: 2004 nahm sie die Mittelmeerinsel Zypern auf, obwohl die Türkei den Norden des Staates völkerrechtswidrig besetzt hält. Eine Wiedervereinigung scheiterte am Nein der griechischen Zyprer im Süden. Dieser Konflikt wurde in die EU importiert und ist bis heute nicht gelöst.

Anti-Putin-Proteste in Georgien: Das instabile Land sollte noch warten, meint die EUBild: AP/picture alliance

Da sowohl die Ukraine als auch Moldau territoriale Konflikte mit Russland oder mit von Russland gestützten Separatisten haben, liegt ein tatsächlicher Beitritt wohl noch in weiter Ferne. Zuvor müssten nach den bisherigen Spielregeln diese Konflikte um den Donbass und die Krim (Ukraine) sowie Transnistrien (Moldau) beigelegt werden. EU-Beamte haben auch die finanziellen Herausforderungen durchgespielt. Der Beitritt der heute im Vergleich mit der EU armen Ukraine würde Fördergelder nach Osten umlenken mit weitreichenden Folgen für die heutigen Empfänger in Mitteleuropa. Das System der Agrarsubventionen müsste völlig umgestellt werden, weil die Ukraine als größtes Flächenland der EU riesige Ackerflächen in die Union einbringen würde. Aber das ist Zukunftsmusik, die erst in Jahrzehnten relevant wird.

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union
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