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Erwartungsvolles Libyen

Anne Allmeling7. August 2012

Die libysche Übergangsregierung hat die Macht an das neue Parlament übergeben. Das Abgeordnetenhaus soll das Land führen, bis eine Verfassung ausgearbeitet ist - und steht vor zahlreichen Herausforderungen.

Libyer jubeln nach der ersten freien Parlamentswahl seit vier Jahrzehnten (Foto: DPA)
Libyer jubeln nach der ersten freien Parlamentswahl seit vier JahrzehntenBild: picture-alliance/dpa

Es war ein Ergebnis, das viele überraschte: Bei den ersten freien Parlamentswahlen in Libyen seit vier Jahrzehnten siegte die moderat-islamische Allianz des früheren Ministerpräsidenten Mahmud Dschibril. Sie konnte 39 der 80 für politische Parteien reservierten Sitze auf sich vereinen. Die Islamisten dagegen, mit deren Wahlsieg viele gerechnet hatten, müssen sich mit weniger als der Hälfte der Sitze zufrieden geben. Damit haben die Libyer im Juli 2012 nicht nur die meisten Beobachter überrascht, sondern auch den bisherigen Trend der Arabellion gebrochen: In Tunesien, Ägypten und – mit Abstrichen – auch in Marokko waren aus den ersten freien Wahlen immer die Islamisten als Sieger hervorgegangen.

Islamisten ohne Einfluss?

Das heißt allerdings nicht, dass die libyschen Islamisten in der Bedeutungslosigkeit verschwunden wären. Erst wenn das neue Parlament am Mittwoch (08.08.2012) seine Arbeit aufnimmt, wird sich der Charakter des Abgeordnetenhauses abzeichnen. Denn 120 von insgesamt 200 Sitzen im Parlament, also die Mehrheit, waren für unabhängige Kandidaten reserviert. Wie sehr diese sich dem einen oder anderen Lager zugehörig fühlen, ist noch völlig undurchsichtig.

Weniger Libyer als erwartet stimmten für die IslamistenBild: Reuters

Die Muslimbrüder behaupten, die meisten unabhängigen Kandidaten stünden auf ihrer Seite. "Es ist theoretisch durchaus möglich, dass die Islamisten so viele Unabhängige auf ihre Seite ziehen, dass sie doch eine große, wenn nicht sogar die wichtigste Rolle in der Nationalversammlung spielen können", sagt der Autor und Libyen-Experte Kurt Pelda im Gespräch mit der Deutschen Welle. Allerdings spricht auch einiges dafür, dass Dschibrils Allianz, in der viele regionale Gruppen vertreten sind, hier ebenfalls gute Karten hat.

Regionale Unterschiede

Ohnehin ist vielen Libyern die Verbundenheit mit ihrer Stadt und ihrem Stamm wichtiger als eine Parteizugehörigkeit. Bevor sich der selbst ernannte Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi 1969 an die Macht putschte, hatten die drei Regionen Cyrenaika, Fessan und Tripoli eine separate Identität. Unter Libyens erstem Herrscher, König Idris, hatte das Land bis 1963 eine föderale Verfassung. Vorher waren die drei Regionen eine italienische Kolonie – und davor nie eine Einheit.

Libyens Ministerpräsident Dschibril gilt als WahlsiegerBild: AP

Unter der Herrschaft Gaddafis profitierten vor allem seine Heimatregion Sirte und die Hauptstadt Tripolis von den Einnahmen aus der Erdölförderung. Die Cyrenaika mit der Metropole Benghasi im Osten dagegen wurde stark vernachlässigt. Es war kein Zufall, dass hier im Februar 2011 die Revolution ausbrach und Benghasi bis zum Fall von Tripolis als Hauptstadt für die Revolutionsregierung fungierte.

Starke Milizen

Mittlerweile ist in der ölreichen Cyrenaika wieder die Befürchtung gewachsen, dass die Provinz zugunsten der Hauptstadt benachteiligt wird. Viele Menschen in der Cyrenaika fordern mehr Autonomie. Mit einer föderalen Ordnung oder gar der Unabhängigkeit der Cyrenaika liebäugelt allerdings nur eine Minderheit. Das neue Parlament und die Regierung in Tripolis werden dafür sorgen müssen, dass sich die Menschen in der Cyrenaika, aber auch in Fessan im Süden nicht benachteiligt fühlen.

Spuren des Bürgerkriegs in der Stadt MisrataBild: picture alliance/dpa

Viele Regionen und Gruppen in Libyen verfügen über eigene Milizen. Das erschwert es der Zentralregierung, ihr beanspruchtes Gewaltmonopol durchzusetzen – zumal die libysche Armee mit dem Beginn des Bürgerkriegs und besonders seit dem Sturz Gaddafis auseinandergebrochen ist. Eine der größten Herausforderungen für die neue Regierung ist es nun, die Milizen der einzelnen Interessensgruppen der Staatsmacht zu unterstellen und Zehntausende von irregulären Kämpfern zu integrieren. "Die bewaffneten Gruppen im Land zu entwaffnen ist wichtig für die Sicherheit im Land", sagt Said Laswad, Chefredakteur der "Tripoli Post", im DW-Gespräch.

Gaddafis Altlasten

Auch wirtschaftlich hat das Land mit zahlreichen Problemen zu kämpfen. Zwar wird schon seit Monaten wieder fast so viel Erdöl gefördert wie vor der Revolution. "Die Erfolgsquote wird auf Kosten der Investitionen und des Unterhalts der Förderanlagen erkauft", sagt Libyen-Experte Pelda. "Dort muss jetzt auch etwas passieren, sonst wird Libyens Erdölwirtschaft schon bald wieder in eine Krise gestürzt." Neben der Beseitigung der Kriegsschäden muss sich das Land auch eine neue Wirtschaftsstruktur geben. Gaddafi hatte die Infrastruktur stark vernachlässigt. Auch von einer gezielten und langfristig angelegten Wirtschaftspolitik konnte nie die Rede sein. "42 Jahre unter Gaddafis Herrschaft haben das Land auf allen Ebenen zerstört", sagt Said Laswad.

In Libyen wird inzwischen wieder viel Erdöl gefördertBild: dapd

Zu den ersten Aufgaben des Parlaments gehört es nun, den künftigen Ministerpräsidenten einzusetzen, die Frage einer Dezentralisierung oder gar einer Föderalisierung des Landes zu entscheiden und die wirtschaftliche Entwicklung anzuschieben. Aber auch die Rolle des Islams und der Scharia sowie der Umgang mit ehemaligen Anhängern des Diktators muss geklärt werden, Gesetze müssen  verabschiedet und Neuwahlen für den Zeitraum nach der Erarbeitung einer Verfassung im kommenden Jahr vorbereitet werden.

Hohe Erwartungen

Die erfolgreich und weitgehend friedlich verlaufene Parlamentswahl vom Juli 2012 war die erste demokratische Abstimmung in Libyen nach mehr als vier Jahrzehnten und der autoritären Herrschaft von Gaddafi. Zuvor hatte es die letzten landesweiten Wahlen unter König Idris gegeben. Die großen Erwartungen der Libyer zu erfüllen, die neben ihrer gewonnenen Freiheit auch mehr Sicherheit, Arbeit und Wohlstand verlangen, wird Parlament und Regierung nicht leicht fallen. Aber die Libyer und ihre Politiker haben die Skeptiker in den vergangenen eineinhalb Jahren schon mehrfach positiv überrascht.

Die Libyer hoffen auf Arbeit, Wohlstand und SicherheitBild: picture-alliance/dpa
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