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Gesellschaft

Eine Zukunft für Benins Märchen

Katrin Gänsler
26. Februar 2019

Wenn es dämmerte, zogen in Benin früher Erzähler durch die Dörfer und fesselten die Zuhörer mit ihren Geschichten. Neue Initiativen sollen zum Erhalt der Märchen beitragen. Die Jugend macht mit.

Benin, Abomey-Calavi - Der 14-jährige Mermoz Kossou steht gerne auf der Bühne und will nach der Schule Comedian werden
Bild: DW/K. Gänsler

Mermoz Kossou springt auf die kleine Theaterbühne. Der 14-Jährige trägt ein langes, königsblaues Gewand. Sein Freund Coffi Anato, neben ihm, läutet eine große Glocke: Die Vorstellung beginnt. Gemeinsam rezitieren und spielen die beiden Jungen eines der vielen beninischen Volksmärchen. Gut 30 Kinder zwischen fünf und zwölf Jahren schauen sich das Stück gespannt an und klatschen am Ende lange und ausdauernd. Als Jungschauspieler Mermoz von der Bühne kommt, strahlt er vor Stolz. Über das Stück sagt er: "Es geht darum, dass man gegenüber seinen Eltern nicht ungehorsam sein darf. Man muss sie respektieren. Den Segen dafür wird es am Ende im Himmel geben."

Es sind packende Szenen, die sich immer aufs Neue in Adjrou'houé abspielen, dem Dorf der Märchen, das am Rande der Stadt Abomey-Calavi im Süden Benins liegt. Hier will der Künstler und Märchenerzähler Fidèle Anato die alte Erzähltradition bewahren. Ein besonderer Tag, wie der "Erzähl-ein-Märchen-Tag", der jährlich am 26. Februar gefeiert wird, ist dafür gar nicht nötig. Immer mittwochs lädt der 39-Jährige alle Kinder aus dem Dorf zur Märchenstunde ein. An Wochenenden organisiert er Workshops, Lesungen und Auftritte von Nachwuchsschauspielern aus der ganzen Region, ab und zu sind auch Gäste aus Frankreich mit dabei.

Fidèle Anato will in seinem Dorf der Märchen Benins alte Tradition erhaltenBild: DW/K. Gänsler

Märchen sind ein eigenes Universum

Das Angebot soll das ersetzen, was früher im Süden Benins Alltag war. Märchenerzähler zogen durch das Land. Mit Einbruch der Dämmerung versammelten sich Kinder und Erwachsene im Dorfzentrum und hörten ihnen zu. Auch Eltern und Großeltern gaben die Geschichten zu Hause an den Nachwuchs weiter. Heute möchte Fidèle Anato nicht nur eine neue Generation von Kindern dafür begeistern, sondern auch das Miteinander stärken. "Diese Tradition erlaubt uns, in der Gemeinschaft zu leben. Man isst zusammen, trinkt zusammen, hört gemeinsam ein Märchen. Das ist besser als in der heutigen Zeit, in der jeder ein Smartphone hat und für sich ist. Dadurch entwickelt sich bloß ein Individualismus."

Die Schüler entdecken die Tradition für sich neuBild: DW/K. Gänsler

Smartphones und soziale Netzwerke im Internet empfindet Fidèle Anato meist als künstlich und leblos. Er ist überzeugt: Sie werden nie die Rolle der Märchen einnehmen. "Mit den Märchen kann ich motivieren und Aufklärungsarbeit betreiben. Natürlich kann man schlicht sagen: Tu dies nicht, tu das nicht. Doch in dem Moment, wo man einen kleinen Sketch aufführt, versteht die Person das." Zahlreiche Märchen unterhalten deshalb nicht nur, sondern haben auch eine Botschaft und rufen zu einer bestimmten Verhaltensweise auf, etwa zu Respekt, Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft. Die Handelnden sind teils Menschen, teils Tiergestalten.Lesen Sie auch: Afrikanisches Kino: Kulturrevolution mit eigenen Geschichten

Auf Märchensuche in den Dörfern

Bei aller Euphorie des Märchenerzählers - die Konkurrenz von Fernsehen und Internet ist groß. "Die Märchen haben die Bedeutung verloren, die sie einst in Benin hatten. Die Jugend findet sie nicht mehr interessant", sagt Germanistikprofessor Mensah Wekenon Tokponto, der 2002 seine Doktorarbeit an der Universität Bielefeld über beninische und deutsche Märchen veröffentlichte. Das könnte auch dazu führen, dass die alten Erzählungen nach und nach verloren gehen. Der Professor schickt deshalb seine Studenten mit Aufnahmegeräten in ihre Heimatdörfer. Vor allem die alten Menschen sollen die Märchen ihrer Kindheit erzählen, damit sie - auch im digitalen Zeitalter - nicht vergessen werden. Ein Teil ist bereits veröffentlicht worden. Der Erzählband "Der Regenwurm und sein Onkel: Märchen aus Benin" ist sogar auf Deutsch erhältlich.

Mensah Wekenon Tokponto hat für seine Doktorarbeit auch die Märchen der Gebrüder Grimm analysiertBild: DW/K. Gänsler

Über eine eigene Sammlung verfügt auch das Dorf der Märchen. Initiator Fidèle Anato hat dafür sogar eine eigene Bibliothek errichtet. Er öffnet die große Tür und zeigt auf die sorgfältig gezimmerten Regale - Benins erste private Märchensammlung, wie er betont. "Wir haben gemerkt, dass viele Menschen die Geschichten zwar kennen, aber nicht wissen, woher sie kommen", erklärt Anato. Die meisten Bücher hier sind auf Französisch, der offiziellen Landessprache. Sie sollen gleichzeitig beim Französischlernen helfen. "Es ist unsere Arbeitssprache, in der die Kinder eine solide Basis brauchen", sagt der Märchenerzähler.

Erzählkunst auf dem Stundenplan

Wenn die Märchen wachgehalten würden, könne das umgekehrt auch lokale Sprachen stärken, sagt Germanistikprofessor Mensah Wekenon Tokponto. In seiner Grundschulzeit musste er noch die Fabeln des französischen Schriftstellers Jean de La Fontaine auswendig lernen. Beninische Märchen seien ursprünglich jedoch in Sprachen wie Fon erzählt und erst später übersetzt worden, sagt der Germanist. "Dabei geht immer etwas verloren."

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Im Märchenunterricht bauen Kinder sogar Stress ab, sagt Lehrerin Claudette Nongandé ZovediBild: DW/K. Gänsler

Für die Bibliothek ist im Dorf der Märchen Claudette Nongandé Zovedi verantwortlich, die selbst Märchenerzählerin ist. Tagsüber arbeitet sie als Lehrerin an einer Grundschule. Auch dorthin kommen die alten Erzählungen nach und nach zurück, da auf dem Stundenplan freitags die Märchenstunde steht. "Ein wichtiges Schulfach", findet sie, auf das sich die Mädchen und Jungen freuen. "Die Märchen helfen, dass sich die Kinder beruhigen und Stress abbauen." Wenn sie selbst zum Erzähler werden, lernen sie, sich besser auszudrücken und vor Publikum zu sprechen.

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