Großayatollah Yusef Sanei
2. Februar 2009Großayatollah Yusef Sanei zählt zu den ranghöchsten Geistlichen Irans. In Qom, der Stadt der Kleriker, kommt er hurtigen Schrittes auf weißen Socken über den Teppich seines Empfangszimmers. Der 71-Jährige wirkt ausgesprochen rüstig; in seiner Rechten schwingt er ein Gehstöckchen aus schwarzem Ebenholz, es scheint kaum vonnöten. Fotogen setzt sich der Geistliche mit seinem weißem Turban vor eine Wand vielfarbig kalligrafierter Buchrücken, ein Assistent rückt ein Mikrofon zurecht. Sanei heftet seinen wachen, ein wenig belustigt wirkenden Blick auf die Besucher und beginnt in volltönendem Persisch zu sprechen, im rollenden Satzrhythmus einer Vorlesung.
Der Großayatollah ist ein Veteran der Revolution. Er spricht mit Treue und Anhänglichkeit von Khomeini, sogar "mit Liebe" – und zugleich ist Sanei ein überraschend modern denkender Kleriker. Frauen, so hat er in seinen Fatwas geurteilt, können Richterin, Staatspräsidentin und sogar höchste religiöse Autorität sein. Nicht-Muslimen stehe das Paradies offen; Atombomben und Selbstmordattentate seien islamisch verboten. Dies alles widerspricht dem Denken und der Praxis der im Iran herrschenden Theokraten.
Demokratischer Islam
"Hier in Qom habe ich nicht viele Anhänger", räumt Sanei ein, "die Lehrstätte steht zu sehr unter dem Einfluss des Systems. Aber im Volk ist mein demokratischer Islam beliebt. Und keiner traut sich, uns zu beleidigen, uns anzutasten."
Sanei entstammt einer Familie schiitischer Gelehrter, die sich über Generationen politisierten - im Widerstand gegen persische Monarchen, die ausländischen Interessen zu sehr zu Willen waren. Saneis Großvater kämpfte am Ende des 19. Jahrhunderts in der "Tabakbewegung": Der damalige Schah hatte den Briten das Monopol im iranischen Tabakhandel überlassen; dagegen erhob sich eine von Geistlichen angeführte Revolte, am Ende mit Erfolg. Manche sehen darin das erste Vorspiel zur Islamischen Revolution.
Khomeinis Schüler
Der junge Sanei kam 1956 mit Khomeini in Kontakt; er wurde sein talentiertester Schüler, ging in seinem Haus aus und ein, bediente bei Familienfesten die Gäste. Es war die Zeit, bevor Khomeini ins Exil getrieben wurde; er hatte noch nicht die Popularität wie in späteren Jahren – und manche Geistliche distanzierten sich von ihm, unter dem Druck des Geheimdienstes. Sanei distanzierte sich nie. "Ich habe Scheich Sanei aufgezogen wie einen Sohn", dieses Zitat Khomeinis steht auf Saneis Website, es prangt auch unübersehbar in diesem Empfangszimmer neben der vielfarbigen Bücherwand. Ein Zitat wie ein Schutzschirm.
Denn obwohl Sanei in der frühen Islamischen Republik hohe Funktionen inne hatte – er war sogar Generalstaatsanwalt - sah er sich nach dem Tod Khomeinis im Jahr 1989 zunehmend in die Isolation gedrängt. "Es ist bei jeder Revolution wohl so", sagt der Geistliche, "dass schließlich jene an die Macht kommen, die mit der Revolution eigentlich nichts zu tun hatten." Volltönend fährt er fort: "Wenn die Machthaber es wünschten, könnte ich ihnen viele Ratschläge geben: Praktiziert Transparenz, belügt das Volk nicht, gebt ihm Verantwortung! Die Machthaber müssten dem Volk sagen: Die Revolution gehört euch, es ist nicht unsere Revolution!"
Der Ruf zum Gebet ertönt. Der Großayatollah entfernt sich hurtigen, lautlosen Schrittes. Sein Assistent reicht den ausländischen Besuchern einen Fragebogen: Was wussten Sie vor dem Gespräch über Sanei, wie hat er auf Sie gewirkt, was denken Sie jetzt über ihn? Seltsame Kontraste: Ein alter Mann, der professionell betreut wird von einer Entourage junger Leute. Ein Verfasser anstößiger Fatwas, voller Liebe zu Khomeini. Aber Sanei ist in dieser Widersprüchlichkeit kein Einzelfall im heutigen Iran: So wie sich 1978/79 in der Anti-Schah-Bewegung diverse Motive hinter Khomeini versammelten, so reklamieren auch heute ganz unterschiedliche Kräfte "den Imam" für sich - die Ultra-Konservativen ebenso wie die Reformorientierten.