1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
MusikEuropa

Lord Of The Lost: Beim ESC sind wir gerne Freaks!

Andreas Brenner | Silke Wünsch
11. Mai 2023

Deutschland hat nach all den erfolglosen Nachwuchstalenten der letzten Jahre eine Rockband zum ESC geschickt, die bereits gut im Geschäft ist. DW traf Lord Of The Lost in Liverpool.

Band Lord Of The Lost mit erhobenen Armen auf der Bühne, hinter ihnen Qualm und Laserstrahlen.
Die Band Lord Of The Lost wird am 13. Mai für Deutschland antretenBild: Martin Meissner/AP Photo/picture alliance

Beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest im März haben die fünf Musiker von der Gothic Metalband Lord Of The Lost (LOTL) zwar nicht die Jury, dafür umso mehr das TV-Publikum für sich gewonnen. Sie lösten mit ihrem Song "Blood & Glitter" das Ticket nach Liverpool und starteten sofort eine Social Media-Kampagne, die so noch nicht von deutschen ESC-Acts da gewesen ist. In ihren Postings zeigten sie sich voller Vorfreude, Respekt vor den anderen Künstlerinnen und Künstlern und Interesse an deren Musik. In Windeseile wurden sie über die Gothic- und Metalblase hinaus bekannt. Ihre Followerzahlen vervielfachten sich ebenso wie ihre Plattenverkäufe und Streamingzahlen.

In der Metalszene sind LOTL, die nächstes Jahr ihr 15. Bandjubiläum feiern, schon längst eine Größe. Die Hamburger Band tritt auf allen großen Festivals auf, bei denen die Gitarren schonmal etwas lauter sind: Wacken in Deutschland, Masters of Rock in Tschechien, Hellfest in Frankreich, Mystic Festival in Polen und vielen mehr. Sie gehen mit der Creme de la Creme der Metalbands auf Tour: Iron Maiden, Amon Amarth, Powerwolf.

LOTL beim M'era Luna-Festival 2018Bild: Rudi Keuntje/Geisler-Fotopress/picture alliance

Rockmusik gehört zum ESC dazu

Und nun treten sie für Deutschland beim Eurovision Song Contest an. Einst begann diese Veranstaltung als großer Schlagerwettbwerb - doch in den 67 Jahren seines Bestehens hat der ESC große Verwandlungen vollzogen. 2006 galt der Sieg der Monsterrockband Lordi für Finnland noch als exotisch, heutzutage dagegen nimmt mindestens eine Hardrock- Industrial- oder Metalband am Wettbewerb teil - und erreicht meist gute Platzierungen. Der Gipfel war der Sieg der italienischen Rockband Måneskin im Jahr 2021.

So beweist Deutschland nicht nur "Mut", mit einem solchen Act beim ESC anzutreten, sondern geht - endlich - mit der Zeit und schickt eine gewachsene Rockband - also Profis - ins Rennen. Gerne werden LOTL mit Rammstein verglichen. Ob sie das nerve, fragte sie die DW beim Interviewtermin in Liverpool. "Nö, gar nicht", lautete die Antwort von Sänger Chris Harms, "wenn man maßgeblich Popmusik hört und mit härterer Musik wenig zu tun hat, und man denkt an Deutschland und sieht ein bisschen Make Up, dann ist der Vergleich nachvollziehbar. Jeder kennt Rammstein, und Menschen brauchen häufig diese Kategorien, um das für sich einordnen zu können. Wir klingen nicht wie Rammstein, wir sehen auch nicht aus wie Rammstein. Wir sind zwei sehr, sehr individuelle Bands, aber wenn das hilft, uns einzuordnen, ist das so."

Auch bei LOTL brennt die Bühne Bild: Rolf Vennenbernd/dpa/picture alliance

LOTL: "Wenn das hier eine Freakshow ist, dann sind wir gerne Freaks"

Trotz der musikalischen Vielfalt und der immer besseren Qualität der Songs wird der ESC von Menschen, die sich nicht mit ihm beschäftigen und nur auf den einen Finalabend fokussiert sind, immer noch als Freakshow bezeichnet. Auf Vorurteile wie diese haben die Jungs von Lord Of The Lost eine deutliche Antwort: "Wenn man das Wort 'Freakshow' benutzt, für eine Veranstaltung, in der Künstler ihre Musik präsentieren, es zelebriert wird, divers zu sein, offen und respektvoll - wenn das eine Freakshow sein soll - dann sind wir gerne Freaks und fühlen uns hier sehr, sehr wohl," sagten die Musiker und lachten fröhlich in die Kamera.

LOTL 2014 in Frankfurt. Die Band wurde 2009 gegründetBild: Susannah V. Vergau/dpa/picture alliance

Sänger und Familienvater Chris Harms, der mit 43 Jahren zu den ältesten Künstlern zählt, die bei diesem ESC auf der Bühne stehen, trägt Leggings in Regenbogenfarben zu seinem schwarzen Pulli. Die anderen sitzen in Leder und Jeans auf dem Sofa, wo sie trotz des inzwischen zwölften Interviewtermins  immer noch freundlich wirken. Vielleicht ein bisschen müde. Kein Wunder, denn zwischen den Interviews gibt es zahlreiche Proben, Pressetermine, einen Auftritt hier, einen Auftritt da - unter anderem auch im Cavern Club, der legendären Kellerbar, in der Brian Epstein 1961 zum ersten Mal die Beatles live sah und fortan ihr Manager wurde. Im Video ein kleiner Eindruck vom Unplugged-Konzert.

Lord Of The Lost im Cavern Club

01:32

This browser does not support the video element.

So eine Show kann Hoffnung geben

Der ESC steht im Zeichen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Liverpool richtet den Wettbewerb stellvertretend für die Ukraine aus - das Land hatte 2022 mit dem Kalush Orchestra gewonnen. Auf die Frage der DW, ob es passend sei, eine solche Show vor dem Hintergrund eines großen Kriegs in Europa zu veranstalten, antwortet Chris Harms: "Es ist offensichtlich, dass die Problematik des Ukraine-Krieges sehr stark in der Show stattfindet - du siehst es ja allein schon in der Symbolik der Farben." Es gebe immer auf der Welt irgendwo Krieg. "Es ist wichtig, den Menschen Hoffnung zu geben durch positive Dinge, durch eine Show, an der vielleicht viele auch Freude haben, selbst in der Ukraine in einer Nacht, wo hoffentlich keine Bomben fallen. Es ist wichtig, dass die Leute sich die Show anschauen und vielleicht auch darin Hoffnung finden, weil es ihnen eine gute Zeit beschert."

LOTL bei einer Probe für den ESC-AuftrittBild: Martin Meissner/AP Photo/picture alliance

Musikwettbewerb ohne Nationen

Dass Künstler aus Russland und Belarus vom ESC ausgeschlossen sind, können die Musiker verstehen, sehen aber auch die andere Seite der Medaille: "Wir haben sehr viele russische Bekannte, Freunde und Fans, von denen wir wissen, dass sie, wenn sie offen reden würden, wahrscheinlich selber in den Knast gehen würden. Wir kennen sogar Leute, die aus Russland geflohen sind. So sehr wir verstehen, dass Russland nicht dabei ist, ist es doch so, dass das leider auf den Rücken der Künstler ausgetragen wird, die gar nicht nicht hinter diesem Krieg stehen." Zum Schluss äußert Harms noch die Idee, den ESC komplett zu entpolitisieren: "Wenn es nach uns ginge, würden alle Länder unter neutraler Flagge auftreten und es wäre einfach ein Musikwettbewerb ohne Nationen, weil: Grenzen sind sowieso alle menschengemacht."

Das Gespräch mit Lord Of The Lost führte Andreas Brenner.

Silke Wünsch Redakteurin, Autorin und Reporterin bei Culture Online