Eskalation in Serbien: Präsident Vucic will Proteste beenden
9. September 2025
Die Luft war voller Tränengas in Novi Sad, der zweitgrößten Stadt Serbiens am vergangenen Freitag (5.09.2025). Der ohrenbetäubende Knall von Blendgranaten hallte über den Campus der Universität, als Polizisten auf die Bürger losgingen, die sich an diesem Abend vor der Philosophischen Fakultät zu einem friedlichen Protest versammelt hatten. "Zuerst stürmte eine Einheit der Bereitschaftspolizei aus dem Park heraus. Aus der Dunkelheit stürzte sie sich auf die Menge und begann, die Menschen mit Schlagstöcken zu traktieren", berichtet Norbert Sinkovic, ein Mitarbeiter der philosophischen Fakultät, im Gespräch mit der DW. Zahlreiche Videos, die in den sozialen Medien gepostet und von Medienanstalten ausgestrahlt wurden, zeigen, wie die Polizei auf die Demonstranten einschlug und niemanden verschonte: Studenten, Ersthelfer, Frauen, sogar ein älteren Mann am Stock wurden getroffen.
Panzerfahrzeuge mit Polizisten patrouillierten auf dem Campus und im weiteren Stadtzentrum. Dabei hielten sie mitunter direkt auf Gruppen von Bürgern zu, um sie zu vertreiben. "Die Polizei drängte die Bürger zurück und räumte eine Straße nach der anderen," sagte die Anwohnerin Tamara Srijemac. "Novi Sad sah an diesem Abend wie eine besetzte Stadt aus." Das Tränengas führte bei den Demonstranten zu Atembeschwerden und Reizungen der Augen und der Haut.
Wie Terroristen behandelt
Demonstranten wurden von Sicherheitskräften durch die Straßen gejagt, viele suchten Zuflucht im Rektorat der Universität. Daraufhin stürmten Polizisten mit Unterstützung von Gendarmerie-Einheiten das Gebäude. Mehrere Stunden lang kesselten sie eine Gruppe von überwiegend Studenten und Professoren in einem Amphitheater ein und durchsuchten sie mehrfach.
"Der ganze Einsatz wurde so durchgeführt, als wenn wir Terroristen wären", sagte die Studentin Iva Galicki gegenüber der DW. "Sie schrien uns an und fragten: 'Wo ist euer Hauptquartier? Wo schmiedet ihr eure Pläne?'". Sie frage sich, ob die Polizisten tatsächlich geglaubt hätten, dass die Demonstranten Terroristen seien, so die Studentin. "Wegen des Ausdrucks auf ihren Gesichtern, der Art, wie sie mit gebleckten Zähnen sprachen und verlangten, dass wir ihnen unseren geheimen Raum zeigen, in dem wir angeblich planten, den Staat zu stürzen. Es war wirklich absurd."
Ein "professionell ausgeführter Job"
Noch am selben Abend gratulierte der serbische Präsident Aleksandar Vucic der Polizei zu einem "professionell ausgeführten Job" und nannte die Demonstranten "Feiglinge und Schufte". Er warf ihnen vor, die Polizei zuerst angegriffen zu haben. "Es ist unsere Pflicht, einzugreifen, wenn die Institutionen der Republik Serbien bedroht sind. Denn wir werden nicht zulassen, dass die Institutionen Serbiens zerstört oder demoliert werden", sagte Vucic. "Der Staat Serbien ist stärker als jeder. Es war heute so, es wird morgen so sein, es wird immer so sein."
Innenminister Ivica Dacic erklärte im staatlichen Fernsehsender RTS am Samstag (6.09.2025), dass 13 Polizisten bei einem "massiven und brutalen Angriff" verletzt worden seien. Er beschuldigte die Demonstranten, Steine und Feuerwerkskörper auf die Einsatzkräfte geworfen zu haben.
Hat die Polizei übermäßige Gewalt angewendet?
"Wir haben bereits bei früheren Gelegenheiten und Protesten übermäßige Polizeigewalt gesehen, aber dies war ein unnötiger Einsatz von Gewalt gegen friedliche Demonstranten", sagt Predrag Petrovic, Forschungsdirektor des Belgrader Zentrums für Sicherheitspolitik, gegenüber der DW. Die Polizei hätte nur gegen diejenigen vorgehen sollen, die direkt an gewalttätigen Vorfällen beteiligt waren, und nicht unterschiedslos gegen alle Demonstranten, von denen die meisten gewaltfrei und friedlich gewesen seien. "Dies war ein Vergeltungsangriff auf Menschen, die sich dem Regime widersetzen. Es war eine Demonstration übermäßiger Gewalt, deren Hauptziel es war, diejenigen massiv einzuschüchtern, die bereit sind, gegen das derzeitige Regime zu protestieren", so Petrovic.
Für den Politikwissenschaftler zeigen die Geschehnisse, dass sich das Belgrader Regime in Richtung offener Repression bewege, die sich außerhalb des Gesetzes stelle und von keiner Institution gestoppt werden könne. "Seit sie an der Macht ist hat die regierende Partei versucht, die vollständige Kontrolle über alle Sicherheitsinstitutionen zu übernehmen. Und damit meine ich auch die Justiz und diejenigen, die eigentlich den Sicherheitsapparat überwachen sollten. Sie hat dabei weitgehend Erfolg gehabt," sagt Petrovic.
Widerstand innerhalb des Systems wird nicht toleriert
Es gibt aber Anzeichen dafür, dass nicht alle mit diesem Vorgehen einverstanden sind. So ging der Kommandeur der Anti-Terroreinheit (SAJ) des serbischen Innenministeriums, Spasoje Vulevic am Sonntag (7.09.2025) an die Öffentlichkeit und erklärte, er sei seines Postens enthoben worden und gehe auf eigenen Wunsch in den Ruhestand. "[Polizeiminister] Dacic und [Polizeidirektor] Vasiljevic riefen mich an und sagten, sie könnten nicht mehr auf mich zählen, weil, wie sie es ausdrückten, der Präsident (Aleksandar Vucic) keine bewaffnete Formation haben möchte, die nicht unter seiner absoluten Kontrolle steht. Deshalb kann ich nicht länger der Befehlshaber sein", sagte Vulevic der Nachrichtenagentur Beta. Sicherheitsexperte Petrovic weist darauf hin, dass dies kein Einzelfall sei. Er sagt, dass auch andere Kommandeure wichtiger Einheiten im vergangenen Jahr unter dem Vorwurf mangelnder Loyalität entlassen wurden.
"Der Präsident möchte, dass die Polizei und alle anderen staatlichen Institutionen ihm persönlich gegenüber loyal sind, dass sie das Gesetz vollständig ignorieren und stattdessen nach seinem Willen und seinen Wünschen handeln", so Petrovic. Er glaubt, dass die Entlassung des Kommandeurs der Anti-Terroreinheit darauf hindeutet, dass eine Säuberung im Gange ist. Er vermutet, dass die Behörden sich auf ernsthafte gewaltsame Konfrontationen mit Kritikern des Regimes vorbereiten.
"Die SAJ ist keine große Einheit, aber sie ist hoch elitär und dazu ausgebildet, Geiselkrisen zu lösen und Terroristen zu bekämpfen. Es kann also angenommen werden, dass die derzeitige Regierung sich auf eine solche Aktion vorbereitet, denn sie bezeichnet schon lange Menschen, die gegen das Regime protestieren, als Extremisten. In den letzten ein oder zwei Monaten hat sie begonnen, sie Terroristen zu nennen - und wir wissen alle, was mit Terroristen passiert," so Petrovic.
Die Studenten geben nicht auf
Mehrere Quellen, mit denen die DW sprach, berichten, dass viele Polizisten sich weigern, Befehlen zu gehorchen, sich krankschreiben lassen oder Urlaub nehmen. Andere quittieren sogar den Dienst. Dennoch bezweifelt Petrovic, dass die Opposition innerhalb der Polizei stark genug ist, um die Repression zu stoppen. Er glaubt, dass nur die Bürger es in der Hand haben, Veränderungen herbeizuführen.
"Massive Revolte und friedlicher Widerstand der Bürger an mehreren Orten gleichzeitig würde offene Repression extrem, extrem schwierig machen, denn es gibt einfach nicht genug Polizisten, um ein solches Szenario zu bewältigen", erklärt Petrovic.
Die Studenten ihrerseits sagen, dass sie keine andere Wahl haben, als ihre Proteste fortzusetzen. "Die Bürger sind sich dessen bewusst, was sie erwartet, und mit Repression lässt sich die Revolte nicht dauerhaft oder effektiv zerschlagen", sagt Danilo Erdeljan, ein Student der Naturwissenschaften, gegenüber der DW. "Das Einzige, was wir tun können, ist, Widerstand zu leisten - auf jede mögliche Art und Weise. Wir können nicht zulassen, dass die Dinge auch in Zukunft so bleiben wie sie jetzt sind."