Eskalation in Serbien: Schlägertrupps und Verhaftungen
19. August 2025
Neun Monate lang verliefen die Proteste in Serbien verhältnismäßig ruhig. Nun eskaliert die Gewalt. Im ganzen Land kommt es inzwischen Nacht für Nacht zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei mit Schlagstöcken, Tränengas, Rauchbomben und Leuchtraketen. Büroräume der regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS) wurden verwüstet.
Die Proteste nahmen im vergangenen November ihren Anfang, nachdem das Vordach des Bahnhofs in Novi Sad eingestürzt war. Viele Menschen wurden verletzt, 16 starben unmittelbar oder an den Folgen des Unglücks. Seitdem ist in Serbien nichts mehr wie zuvor, ständig gibt es Demonstrationen, Blockaden und Streiks. Dabei geht es längst nicht mehr nur um das Bahnhofvordach, sondern die allgemeine Unzufriedenheit mit der Politik und der weit verbreiteten Korruption.
Neda Vrebac ist in der informellen "Bürgerversammlung Novi Sad" aktiv. Seit Monaten geht sie regelmäßig auf die Straße. Sie sagt, viele in Serbien seien wütend. Die Gewalt auf den Straßen sei lediglich eine Reaktion auf die Gewalt der Regierung. "Wir standen komplett unbewaffnet gezückten Bajonetten gegenüber", sagt Vrebac der DW. "Ich bin wie viele andere Serben, die regelmäßig zu Protesten gehen, sehr aufgebracht, fühle mich verunsichert und nicht sicher. So ist das, wenn man im Faschismus mit all seinen Ausprägungen lebt."
Oft wissen Demonstrierende nicht, ob sie mit der Polizei zusammenstoßen - oder mit Schlägertruppen der SNS. In den sozialen Medien zirkulieren Videos, die Gruppen junger Männer in Skimasken zeigen, die bewaffnet mit Stöcken in Richtung Demonstration stürmen. Medienberichten zufolge befanden sich darunter Personen, die wegen versuchten Mordes und Körperverletzung verurteilt wurden - und sogar ein früherer Hooligananführer, der 2009 wegen des Mordes an einem französischen Fußballfan vor Gericht stand.
"Die Behörden haben den Bürgern den Krieg erklärt"
"Unterstützt durch Kriminelle, die der Regierungspartei nahestehen, haben die Behörden den Bürgern den Krieg erklärt. Es gibt kein Zurück mehr, die Lage ist eskaliert", sagt Radivoje Jovovic vom Komitee der Freien Bürgerbewegung Novi Sad gegenüber der DW. "Die Bürger haben verstanden, dass es mit der Mafia an der Macht keine parlamentarische Demokratie gibt. Man muss nicht mehr verhandeln - außer darüber, wie die Macht übergeben wird."
Jovovic glaubt, dass es zur Gewalt auf den Straßen gekommen sei, weil die Regierung nervös sei - und unfähig, die Krise zu lösen. "Die Behörden weigern sich, die berechtigten Forderungen der Protestierenden anzuerkennen. Die SNS hat uns nicht geglaubt, als wir sie gewarnt haben, dass sie sich vor dem Zorn der Geduldigen hüten soll. Jetzt haben sie Verbrechen begangen, mit denen sie ihr eigenes Ende beschleunigen", sagt Jovovic. Er wurde am 19. August bei einer Blockade ebenfalls festgenommen.
Brutales Vorgehen der Polizei
Inzwischen greift auch die Polizei immer öfter zu Gewalt. Bürger und Medien haben zahlreiche Fälle von Übergriffen zusammengetragen. Die Belgrader Studentin Nikolina Sindjelic sagt, dass sie vom Kommandanten der Einheit für Personen- und Objektschutz, Marko Kricak, "geschlagen und mit dem Kopf gegen die Wand gestoßen" worden sei. Er habe sie außerdem als "Hure" bezeichnet.
"Er hat gesagt, dass er mich ausziehen und vor allen vergewaltigen würde, dass jeder zusehen würde. Ich war sichtbar wütend, und er hat mir gesagt: 'Du solltest mich anflehen, damit ich dich nicht mehr schlage'", sagte Nikolina Sindjelic gegenüber dem serbischen Fernsehsender N1.
Bilder wie aus Gefangenenlagern
Während nachts die Zeit der Schlagstöcke ist, kommt es tagsüber zu vielen Verhaftungen. Mehrere regierungsfreundliche Medien veröffentlichten Aufnahmen von jungen Männern, die mit den Händen auf dem Rücken an einer Wand knieten, jeweils bewacht von einem Polizisten. Viele Serben erinnern diese Bilder an die Gefangenenlager während der Kriege nach dem Zerfall Jugoslawiens vor 30 Jahren.
Neda Vrebac sagt, sie kenne einige der Verhafteten. Mindestens drei von ihnen seien 21-Jährige gewesen, die gar nicht bei den Protesten gewesen seien. Einer von ihnen sei Vukacin Kurilic, seine Familie kenne sie persönlich. "Sie sind Teil meiner Gruppe, sie unterstützen alles, aber nehmen nicht aktiv an den Protesten teil", so Neda Vrebac gegenüber der DW.
Vukacin Kurilic sei gerade einkaufen gewesen. "Er trug ein paar Taschen. Als sie sich ihm näherten, wehrte sich der Junge und sagte, er habe nichts getan. Dann durchsuchten sie ihn, fanden seinen Asthma-Inhalator, hielten ihn für Pfefferspray und bugsierten ihn in einen Polizeiwagen. Er hat keinerlei Vorstrafen."
Vucic kündigt "harte Reaktion des Staates" an
Serbiens Präsident Aleksandar Vucic kündigte eine "harte Reaktion des Staates" an. Den Ausnahmezustand will er jedoch nicht verhängen. "Sie werden die volle Entschlossenheit des serbischen Staates zu spüren bekommen. Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um Ordnung, Frieden und Recht in unserem Land wiederherzustellen. Wir werden uns allem Druck von außen widersetzen, allen, die uns drohen, die uns sagen, was erlaubt ist und was nicht. Wir haben bislang nur gesehen, dass sie Chaos in unser Land bringen. Aber wir werden gewinnen", sagte Vucic.
Bei einer Pressekonferenz warf Vucic Studierenden und Bürgern vor, dass sie den serbischen Staat zerstören wollen. Er verglich sie mit Faschisten und Nazis und sagte, es sei nur eine Frage der Zeit, bis jemand zu Tode komme.
Diese Sorge teilen auch viele der Protestierenden. "Ich habe Angst, dass Menschen sterben werden - wir Bürger, Unschuldige, Kinder und Aktivsten", sagt Neda Vrebac. Sie befürchtet auch, dass die Regierung jemanden aus den eigenen Reihen töten könnte, um die Gewalt noch weiter zu eskalieren. "Ich glaube, er [Vucic, Anm. d. Red.] ist bereit für alles, denn in seinem Umfeld gibt es Unmengen an Geld und eine Art Mafia. Und es ist ja bekannt, wie die Mafia arbeitet."
Von Unruhen zu Neuwahlen?
Die aktuelle Situation sei ein Gleichgewicht der Ohnmacht, sagt der pensionierte Politikwissenschaftler Zoran Stojiljkovic. Beide Seiten würden darum kämpfen, die Oberhand zu gewinnen, keine von beiden habe eine klare Strategie. "Ich glaube nicht, dass Vucic einen Ausnahmezustand anstrebt - denn er ist gar nicht in der Lage, diesen durchzusetzen, wenn die Menschen nicht bereit sind, sich daran zu halten. Und das sind sie eindeutig nicht", sagt Stojiljkovic.
"Wünschenswert wäre eine Form von Dialog, verhältnismäßig faire Wahlbedingungen und Neuwahlen innerhalb der nächsten Monate," so der Politikwissenschaftler weiter. Er betont, es sei nun wichtig für die protestierenden Studierenden, für eine politische Lösung zu mobilisieren: "Sie müssen den Menschen klar sagen, was sie davon haben, wenn die Wahlen gewonnen werden", so Stojiljkovic. "Und was sie in der Zeit bis zu regulären Wahlen in ein oder zwei Jahren zu tun gedenken, damit so etwas wie hier nie wieder passiert."