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Politik

Eskalation mit Ansage in Kenosha, Wisconsin

28. August 2020

Sieben Schüsse eines Polizisten auf den Schwarzen Jacob Blake, Proteste gegen Polizeigewalt und Rassismus, zwei tote Demonstranten und eine Stadt, die in Flammen steht. In Kenosha war das nur eine Frage der Zeit.

US-Flagge vor einem brennenden Justizgebäude in Kenosha
Bild: picture-alliance/dpa/M. Gash

Selten, ganz selten tauchen Namen von weitgehend unbekannten Städten in der Weltöffentlichkeit auf, die nie zuvor auch nur den kleinsten Hinweis darauf gaben, dass solch ein Ereignis dort zu erwarten wäre. Christchurch zum Beispiel, eine friedliche Stadt auf der Südinsel von Neuseeland, die völlig überraschend zum Tatort für einen Terroranschlag auf eine Moschee mit 51 Toten wurde.

Vor gerade einmal einer Woche kannte fast niemand Kenosha, eine verschlafene 100.000-Einwohner Stadt im US-Bundesstaat Wisconsin, deren Name indianischen Ursprungs ist, wegen der Hechte, die von dort im Michigansee schwimmen. Heute kann die ganze Welt Kenosha buchstabieren.

Und das nicht etwa wegen der Raubfische, sondern wegen Rassismus und Polizeigewalt, angesichts brennender Gebäude und Autos sowie anhaltender Demonstrationen mit zwei Toten. War so etwas wirklich undenkbar in Kenosha? Nein, hier hat der berühmte letzte Tropfen das Fass zum Überlaufen gebracht.

Lange Tradition der Unterdrückung

"Es ist für mich nicht sonderlich überraschend, was in Kenosha passiert ist", sagt Christy Clark-Pujara, die an der Universität von Wisconsin-Madison in der Abteilung für afroamerikanische Studien lehrt. Jahrelang gab es Spannungen zwischen Polizei und der schwarzen Gemeinde, die unweigerlich zu solch einem traurigen Höhepunkt wie den sieben Schüssen auf den 29-jährigen Schwarzen Jacob Blake führen mussten.

Sieben Schüsse auf Jacob Blake: Landesweit, wie hier in New York, fordern Demonstranten GerechtigkeitBild: Getty Images/M. M. Santiago

Für Clark-Pujara hat das, was gerade in Kenosha passiert, seinen Ursprung allerdings viel früher. Vor fast 200 Jahren galt Wisconsin als Zufluchtsort für viele Menschen, die der Sklaverei entkommen waren, und Hilfe brauchten, um von dort nach Kanada zu gelangen. 

"Wenn sie versuchten, aus der Knechtschaft zu fliehen und durch Wisconsin zu kommen, konnten sie Hilfe finden. Wenn sie aber versuchten, sich in Wisconsin niederzulassen und ihr Leben als freie schwarze Person zu leben, wurden sie an den Rand gedrängt", erklärt Clark-Pujara.

Der Mythos vom antirassistischen Norden

Gerade erst hat sie einen Artikel veröffentlicht, wie der Mythos des liberalen Nordens die lange Geschichte von weißer Gewalt in den USA verschleierte. Clark-Pujara widerlegt dabei die Behauptung, die Sieger des Amerikanischen Bürgerkrieges, welche 1865 die Sklaverei abschafften, seien frei von Rassismus.

"Die Menschen im Mittleren Westen verstehen ihre Geschichte des Rassismus nicht", sagt die Historikerin, deswegen seien die aktuellen Ereignisse von Kenosha vorhersehbar gewesen. "Diese Dinge scheinen aus dem Nichts zu kommen oder neu zu sein, dabei sind sie ein Spiegelbild dessen, was wir immer waren."

Mit schwerem Gerät gegen den Protest: Polizeifahrzeug in KenoshaBild: Reuters/B. McDermid

1848 wurde in Wisconsin eine Version der Staatsverfassung verabschiedet, die nur weißen Männern erlaubte zu wählen. Ein Entwurf, der ein Referendum über das Wahlrecht der schwarzen Männer gefordert hatte, wanderte in den Papierkorb. Auch heute noch, so Clark-Pujara, "bestehen einige der schlimmsten Unterschiede zwischen Weißen und Schwarzen in den USA im Mittleren Westen".

Mittlerer Westen steht für große Ungleichheit

Die Bundesstaaten North und South Dakota, Nebraska, Kansas, Minnesota, Iowa, Missouri, Illinois, Michigan, Indiana, Ohio und eben auch Wisconsin führen etwa die Statistik an, wenn es um die größte Differenz zwischen Weißen und Schwarzen bei der Arbeitslosigkeit geht. Auch die Zahl der konzentrierten Armut bei der schwarzen Bevölkerung ist im Mittleren Westen am höchsten.

Eine explosive Mischung also auch in Kenosha, wo jeder neunte Einwohner schwarz ist. Der Rassismus brodelt unter der Oberfläche, manchmal wird er auch ganz offen ausgelebt. 2016 verkleidet sich ein Schüler für eine Klassenpräsentation als Mitglied des Ku Klux Klan. Für manche nur ein geschmackloser Scherz, doch der Nährboden ist offensichtlich: 15 Hassgruppen, darunter nationalistische und Neonazi-Organisationen, sind in Wisconsin präsent und werden von der Justiz verfolgt.

Neue Ausrüstung für die Polizei ist überfällig

Und dann ist da noch eine Polizei, die sich bislang erfolgreich jeder Kontrolle entzieht: 2017 verabschiedete die Stadt einstimmig einen Beschluss, in dem die Verwendung von Körperkameras empfohlen wurde. Bürgerrechtler hatten den Einsatz von "Body-Cams" schon seit Jahren gefordert, um gewalttätige Übergriffe zu überwachen und gleichzeitig zu minimieren.

Die Maßnahme ist jedoch bis heute nicht umgesetzt, die Stadtbeamten verweisen auf hohe Anschaffungskosten. Jetzt bestätigte der Bürgermeister von Kenosha, John Antaramian, dass Körperkameras 2022 im Budget enthalten seien.

Diese "Body-Cams" könnten auch der weißen Bevölkerung helfen. 2004 wurde der weiße, 21-jährige Michael Bell Jr. vor den Augen seiner Familie von der Polizei erschossen. Zunächst versuchten die Behörden den Vorfall zu vertuschen, die beteiligten Beamten wurden nach einer internen Untersuchung freigesprochen. Später gewann jedoch Bells Familie eine Klage gegen die Stadt. Seit 2014 werden Todesfälle, an denen Polizisten beteiligt sind, genauer untersucht.

Die Beamten, die Jacob Blake aus nächster Nähe sieben Kugeln in den Rücken jagten, wurden kurz nach der Tat suspendiert.