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Wenn Leichtsein zum schweren Problem wird

25. Dezember 2021

Norwegens Skisprungstar Maren Lundby hat die Diskussion um das bewusste Abhungern im Leistungssport befeuert. Expertinnen warnen vor der Gefahr, in eine gefährliche Essstörung abzurutschen.

Symbolbild Magersucht im Sport
Optimales Gewicht und richtige Ernährung sind im Leistungssport ein DauerthemaBild: Mathias Fengler/Zoonar/picture alliance

"Mir wurde früher auch immer suggeriert: Die Bleistifte rennen vorne, nicht die Radiergummis", sagt Sabrina Mockenhaupt der DW. "Das klingt salopp, kann sich aber schnell im Kopf festsetzen." Die 40 Jahre alte Ex-Läuferin hat in ihrer Karriere 40 deutsche Meistertitel über die langen Distanzen gewonnen. "Ich war nie zu dünn. Vielleicht war meine Karriere deshalb auch so lang", vermutet Mockenhaupt. "Ich glaube nicht, dass viele der dünnen 20-Jährigen, die aktuell Wettkämpfe bestreiten, auch mit 35 Jahren noch Rennen laufen."

Die Diskussion um die Gefahr, im Spitzensport durch Abhungern in schwere Essstörungen abzurutschen, ist durch den norwegischen Wintersportstar Maren Lundby neu befeuert worden. Die Skisprung-Olympiasiegerin und -Weltmeisterin verzichtete Anfang Oktober überraschend auf die komplette Saison mit dem Höhepunkt der Olympischen Winterspiele 2022 in Peking.

"Ich bin einige Kilo zu schwer für das höchste Niveau. Und ich bin nicht bereit, verrückte Dinge zu tun, um daran etwas zu ändern", sagte die 27-Jährige in einem Fernseh-Interview, bei dem sie immer wieder in Tränen ausbrach. Sie wolle damit auch eine Botschaft an junge Talente senden, so Lundby: "Kompromisslose Gewichtskontrolle sollte kein Thema sein. Damit kannst du alles zerstören."

Gefahr, in eine Essstörung abzurutschen

"Ich finde, sie macht es genau richtig", sagt Katrin Giel der DW. "Sie verhält sich sehr fürsorglich und gesund. Das sollte eine Strahlkraft haben." Die Professorin an der Universitätsklinik Tübingen ist Expertin für Ess- und Gewichtsstörungen - auch im Sport. "Im Spitzensport geht es um Höchstleistungen", erklärt Giel. "Leistungssportler sind gut darin, sich Dinge zu versagen, sich ein Stück weit zu quälen und Schmerzen auszuhalten. Vielleicht sogar phasenweise über ihre Grenzen gehen. Das begünstigt es, auch im Essverhalten strikt zu sein." Der Grat sei dabei sehr schmal. "Dann rutscht man vielleicht in eine Essstörung hinein. Und es ist sehr schwierig, dort wieder herauszukommen."

Skisprung-Olympiasiegerin Maren Lundby will ihren Titel in Peking nicht verteidigen - wegen ihres GewichtsBild: Matthias Schrader/AP/picture alliance

An der Tübinger Klinik gibt es eine RED-S-Sprechstunde für Kaderathletinnen und -athleten. RED-S steht für "Relatives Energiedefizit im Sport": Wer seinen Körper stark belastet, ihm aber zu wenig Kalorien zuführt, riskiert schwerwiegende gesundheitliche Probleme. "Wenn beispielsweise Sportlerinnen mit 20 Jahren noch nie eine Regelblutung hatten, müssen die Alarmglocken klingeln", sagt Sportmedizinerin Christine Kopp, die die Sprechstunde leitet. "Auch wenn sie eine Schilddrüsen-Unterfunktion haben, bei ihnen gehäuft Ermüdungsfrakturen auftreten, bei Depressionen und natürlich bei Untergewicht." Zu den Risikosportarten für Essstörungen zählen neben Skispringen unter anderem Turnen, Rhythmische Sportgymnastik, Wasserspringen sowie Ausdauersportarten wie Triathlon, Langstreckenlauf, Biathlon und Skilanglauf.

Vorbilder in sozialen Medien

Wie beim Interview des Skisprungstars Lundby fließen auch in der Kadersprechstunde in Tübingen häufig Tränen - bei den Betroffenen selbst und, wenn sie dabei sind, auch bei den Eltern. "Sie haben sich über eine sportlich erfolgreiche Tochter oder einen erfolgreichen Sohn in einem tollen Verein gefreut. Doch plötzlich wird jedes Essen daheim zum Problem", erläutert Kopp im Gespräch mit der DW. "Der Sport droht, ihr Kind im Extremfall umzubringen. Gleichzeitig kann die Tochter oder der Sohn ohne Sport nicht leben. Das hat fast schon Suchtcharakter. Deswegen gehört die Therapie in die Hand von Fachleuten."

10.000-Meter-Läuferinnen bei den Olympischen Spielen in Tokio - zu dünn?Bild: Anke Waelischmiller/Sven Simon/picture alliance

Bei den Ratsuchenden in Kopps RED-S-Sprechstunde kommt im Schnitt auf zehn Frauen ein Mann. Das entspricht in etwa der Geschlechterquote bei klinischen Essstörungen. "Anorexie [Magersucht - Anm. d. Red] ist eine klassische Frauenerkrankung", sagt Psychologin Katrin Giel und führt aus, dass neben eigenen Einstellungen und Verhaltensweisen auch gesellschaftliche Gründe eine Rolle spielen: "Da geht es um Schlankheitsideale, die vor allem auf Frauen und Mädchen Druck ausüben können. Das wird in unserer westlichen Welt immer extremer, auch durch die sozialen Medien."

Diese Erfahrung hat auch Sportmedizinerin Kopp gemacht. Sie spricht von einem "blöden Schönheitsbild", das in den sozialen Netzwerken befeuert werde: "Da sitzen junge Athletinnen vor mir, deren Vorbilder bestimmte Influencerinnen sind, die auf Youtube verkünden: 'Ihr müsst dünn und drahtig sein, dürft kein Körperfett haben, müsst euch auf spezielle Weise ernähren!' Die Mädchen sehen in den Spiegel und sagen zum Beispiel: 'Ich will aussehen wie Pamela Reif [erfolgreiche deutsche Influencerin - Anm. d. Red.]!' Und dann arbeiten sie darauf hin."

Neid auf die Konkurrentin

Häufig werde dieser Prozess von außen verstärkt, sagt Giel. "Das Experimentieren mit Diäten kann anfangs für Erfolgserlebnisse sorgen, etwa wenn die Leistung besser wird oder wenn der Trainer oder die Teamkollegin sagt: 'Toll, du hast abgenommen!'" Das Umfeld kann zudem für zusätzlichen Druck sorgen, wie Ex-Langstreckenläuferin Mockenhaupt schildert: "Als ich einmal im Trainingslager Schwierigkeiten hatte, einen Berg hinaufzukommen, hat mir ein Trainer gesagt: 'Schau dich doch mal an!' Je nach psychischer Konstitution ist das schon schwer, wenn dir jemand so etwas sagt."

"Die jungen Mädchen sollten auf sich achten, nicht auf andere", sagt Sabrina Mockenhaupt. "Es kann nicht jeder dünn sein."Bild: Robert Schmiegelt/Geisler/picture alliance

Noch schwerer werde es, wenn man sich dann mit Konkurrentinnen vergleiche, so Mockenhaupt. Sie berichtet von einer Trainingskollegin vor den Olympischen Spielen 2012: "Ich habe sie wirklich beneidet. Sie war rappeldünn, konnte aber Leistung bringen und war schneller als ich. Ich habe mich gefragt, wie sie das hinbekommt. Und sie klagte nur: 'Ich bin immer noch zu dick.' Das hat mich fix und fertig gemacht. Ich fand mich fett, habe mich unwohl gefühlt." Diese Läuferin habe in London gut abgeschnitten. "Aber ein Jahr später war für sie Feierabend", sagt Mockenhaupt. Sie selbst habe in ihrer Karriere "auch einmal probiert, noch mehr zu trainieren und weniger zu essen. Aber der Schuss ging nach hinten los. Meine Leistung ging in den Keller."

"Niemand möchte stigmatisiert sein"

"Wir warnen die Athletinnen und Athleten, dass eine weitere Gewichtsabnahme nicht unbedingt zu einer besseren Leistung führt", berichtet Christine Kopp aus ihrer Kadersprechstunde. "Wenn sie Pech haben, wird sogar das Gegenteil bewirkt: eine Leistungsminderung, die auch in eine Leistungsunfähigkeit münden kann." Von den 40 Ratsuchenden im vergangenen Jahr, so Kopp, hätten fünf mit dem Leistungssport aufgehört - "weil sich bei der Psychotherapie schwerwiegende Probleme herausstellten".

Die Aufmerksamkeit bei den Sportverbänden für das Risiko von Essstörungen ist in den vergangenen Jahren gestiegen, bis hoch zum Internationalen Olympischen Komitee. "Viele Athletinnen und Athleten machen Essstörungen jedoch mit sich selbst aus und tragen ihr Problem nicht nach außen. Das macht es auch für das Umfeld schwierig, es überhaupt zu bemerken", sagt Psychologin Gies. "Und so bleibt es ein Stück weit ein Tabu." Das bestätigt auch ihre Tübinger Kollegin Kopp: "Niemand geht gern vor die Presse und sagt: 'Übrigens, ich habe eine Essstörung und kann nur Sport treiben, wenn ich vorher dreimal aufs Klo gehe und spucke.' Das macht kein Mensch. Niemand möchte stigmatisiert sein!"

Umso wichtiger seien Auftritte wie jener des norwegischen Skisprungstars Maren Lundby, findet Ex-Langstreckenläuferin Sabrina Mockenhaupt. "Das ist vielleicht auch ein Hilferuf, wie es um den Sport bestellt ist."

Wenn Sie auf diesen Link klicken, finden Sie die Kontaktdaten der RED-S-Sprechstunde an der Universitätsklinik Tübingen. Und hier finden Sie Informationen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zum Thema Essstörungen.

Dieser Artikel wurde erstmals am 18.10.2021 veröffentlicht.