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Estland ist Europameister bei der Digitalisierung

Benjamin Bathke
20. Juli 2025

Deutschland ist ein analoges Land in einer digitalen Welt. Um hier aufzuholen, könnten die Deutschen sich an Estland orientieren. Der baltische Staat hat Europas digitale Führung übernommen.

Luftaufnahme: Eine Nebelbank zieht durch und über die Skyline der estnischen Haupstadt Tallinn
Bild: 2025 e-Estonia/Trade with Estonia

Wie lange dauert es, in Ihrem Land eine Scheidung einzuleiten? In Estland kann der erste Schritt in weniger als einer Minute erfolgen - und das, ohne dass der nun nicht mehr erwünschte Ehepartner dabei ist. "Es dauert nur 45 Sekunden, bis man im Online-Antrag an den Punkt kommt, an dem man den Scheidungsantrag absenden kann", sagte Luukas Ilves der DW.

Bis vergangenes Jahr war Ilves Chief Information Officer der estnischen Regierung. Der Scheidungsantrag sei der letzte Bereich der öffentlichen Verwaltung, der digitalisiert wurde. Estland sei damit wahrscheinlich das erste vollständig digitalisierte Land der Welt, so Ilves.

Auch in Estland müssen natürlich beide Partner dem Verfahren zustimmen und persönlich zu einem Termin mit einem Standesbeamten erscheinen, der die Ehe formell beendet. Doch schon jetzt wird der Online-Dienst stark genutzt: Etwa 60 Prozent aller Scheidungen in Estland wurden seit dem Start der sogenannten E-Scheidungsplattform im vergangenen Dezember online eingeleitet.

Benutzerfreundlich und schnell - das E-Scheidungsformular in EstlandBild: eesti.ee 

"Wir erwarten von digitalen Diensten im privaten Sektor Bequemlichkeit, Einfachheit und Sicherheit. Warum sollten staatliche Dienste da anders sein", fragt Ilves.

Benutzerfreundlichkeit ist der Schlüssel zur Akzeptanz

Ilves ist auch Autor der aktuellen Studie "Das Ende der Bürokratie", die er zusammen mit der deutschen Friedrich-Naumann-Stiftung erstellt hat. Der Bericht zeigt, was Deutschland von Estland lernen kann. Derzeit nutzen etwa 62 Prozent der Deutschen digitale Verwaltungsdienste, während es in Estland mehr als 90 Prozent sind, so der Bericht.

Ein zentrales Thema ist die elektronische Verifizierung der Identität: 90 Prozent der Esten nutzen nationale E-IDs, um auf staatliche Dienste zuzugreifen - in Deutschland sind es weniger als zehn Prozent. Der Grund dafür sei einfach, sagt Ilves: Die estnische Software sei benutzerfreundlicher und ermögliche den Zugang zu öffentlichen und privaten Diensten, einschließlich Online-Banking.

Welchen Unterschied die Benutzerfreundlichkeit ausmacht, zeigt das Beispiel Belgien. Das Beneluxland hatte laut Ilves bis vor einigen Jahren eine ähnliche E-ID-Technologie wie Deutschland. Doch nur 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung verwendeten sie. Nachdem jedoch Banken und Telekommunikationsanbieter in Belgien eine benutzerfreundliche mobile Version eingeführt haben, die Zugang zu privaten und staatlichen Diensten ermöglicht, ist die Nutzung auf 80 Prozent gestiegen.

Luukas Ilves war in der estnischen Regierung für die Digitalisierung zuständigBild: 2025 e-Estonia/Trade with Estonia

Die größere Akzeptanz digitaler Verwaltungsdienste helfe zudem, Steuergelder zu sparen, meint Ilves. Die Verwaltungskosten für die Steuererhebung in Estland betrügen pro Kopf nur ein Sechstel der Kosten in Deutschland.

Bürokratiedschungel durch Einmaleingaben lichten

Nach der Bundestagswahl im Februar 2025 hat die neue deutsche Regierung unter Kanzler Friedrich Merz ein Digitalministerium gegründet. Ziel ist es, ein "umfassendes Dienstleistungsangebot zu schaffen".

Vertreter der Digitalwirtschaft wie Magdalena Zadara begrüßen diesen Schritt. Zadara ist Stabschefin und Strategin beim DigitalService des Bundes, einer staatlichen Agentur zur Digitalisierung von Verwaltungsprozessen.

Sie ist "optimistisch", dass das neue Ministerium die scheinbar endlosen Wege durch die deutsche Bürokratie verkürzen könne. Ein aktuelles Beispiel: "Wenn ich aus einem Nicht-EU-Land nach Deutschland komme und arbeiten will, habe ich mit fünf bis sieben verschiedenen Behörden zu tun, um mein Diplom anerkennen zu lassen - und sie würden vielleicht sogar dieselben Daten mehrfach abfragen."

Eine Lösung sieht sie im estnischen Once-Only-Prinzip (OOP): Bürger und Unternehmen müssen Informationen nur einmal angeben, die dann intern von allen Behörden weiterverwendet werden dürfen.

Magdalena Zadara glaubt an die Effektivität des neuen DigitalministeriumsBild: DigitalService GmbH des Bundes

OOP ist ein Grundpfeiler der digitalen Verwaltung in Estland und sogar gesetzlich verankert. Ein weiteres Merkmal der modernen estnischen Verwaltung ist die digitale Signatur, die für alles genutzt wird - vom Arbeitsvertrag bis zur Stimmabgabe bei nationalen Wahlen.

Mit einem "Tiger-Sprung" an die Spitze

Die baltischen Staaten - Estland, Lettland und Litauen - erlangten 1991 ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion zurück. Estland brachte damals im Rahmen des Bildungsprogramms "Tiger Leap" das Internet und Computer in alle Klassenzimmer und Bibliotheken.

Im Jahr 2000 machte das Land mit 1,4 Millionen Einwohnern einen weiteren großen Schritt in der Digitalisierung: Online-Steuererklärungen wurden eingeführt und elektronische Signaturen rechtlich anerkannt. Bis 2015 waren alle wichtigen öffentlichen Dienste - einschließlich Gesundheits- und Sozialdienste - vollständig digitalisiert.

Estlands Weg zum digitalen EuropameisterBild: Benjamin Bathke/DW

Europas digitale Abhängigkeit verringern

In anderen europäischen Ländern und bei der EU-Kommission in Brüssel ist die Online-Sicherheit ein großes Thema. Deshalb fordert die europäische Tech-Industrie, die Abhängigkeit von US-Technologiegiganten wie Google, Microsoft oder Amazon zu verringern. Sie warnt die EU-Kommission davor, das Gesetz über digitale Märkte (DMA) zu verwässern, das als Schutz gegen deren Dominanz dient.

Zudem wird der Aufbau eines sogenannten EuroStack gefordert - eine europäische Alternative für technologische Souveränität. Der EuroStack soll unter anderem souveräne KI, Open-Source-Ökosysteme, grüne Supercomputer, Datenräume und eine souveräne Cloud umfassen.

Luukas Ilves sieht diese Initiative skeptisch und warnt vor hohen Kosten, wenn man das Rad in der Digitalisierung neu erfindet - insbesondere bei End-to-End-Anwendungen.

"Kein Land kann im digitalen Raum autark und vollständig souverän sein. In Estland haben wir nie einen vollständigen Estonia-Stack gebaut, sondern sehr spezifische Anwendungen und Protokolle auf dem globalen Technologie-Stack aufgebaut", erklärt er.

Gleichzeitig räumt er ein, dass Europa sich viel stärker auf die "sehr spezifischen Risiken" konzentrieren müsse, die mit der Digitalisierung aller Lebensbereiche einhergehen.

Adaptiert aus dem Englischen von Sabine Faber

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