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Politik

Auf dem Weg zur Festung Europa

Barbara Wesel
13. November 2021

Der Umgang mit Flüchtlingen an der polnisch-belarussischen Grenze zeigt, wie sich die Politik in der EU verschärft hat. Wenn Ratspräsident Charles Michel jetzt einen Mauerbau fordert, bricht er erneut ein Tabu.

Polnische Polizisten stehen an der Grenze zu Belarus zur Abwehr von Migranten bereit
Polnische Polizisten stehen an der Grenze zu Belarus zur Abwehr von Migranten bereitBild: Policja Podlaska/REUTERS

Zuletzt stand die Flüchtlingspolitik beim Herbstgipfel der EU im Oktober auf dem Programm. Und einmal mehr gingen die Regierungschefs auseinander, ohne sich auf einen gemeinsamen Weg vorwärts zu einigen. Strittig ist weiter die Entlastung der Ankunftsländer im Süden, eine Umverteilung von Asylberechtigten und neuerdings auch eine Sicherung der Außengrenzen durch Zäune und Mauern. Wie dicht darf eine Festung Europa sein, wenn sie ihre Grundwerte nicht völlig aufgeben will? Die politische Stimmung weist in Richtung weitgehender Abschottung.

Mauerbau - ja oder nein?

Zwölf Länder hatten im Oktober einen Vorstoß unternommen, um europäisches Geld für den Bau von Mauern und Sperranlagen an ihren Außengrenzen zu bekommen: unter anderem Polen, die baltischen Staaten und Österreich. Die vergangenen Monate hätten gezeigt, dass der Migrationsdruck nicht nachlasse, erklärte Alexander Schallenberg, neuer Kanzler in Wien. Zwar haben in diesem Jahr nach Angaben der Grenzschutzagentur Frontex rund 135.000 Flüchtlinge den Boden der EU erreicht, was 50 Prozent mehr sind als 2020. Allerdings ist diese Zahl weit vom Höhepunkt der Migration 2015 entfernt, als mehr als eine Million Menschen an die Tore Europas klopften.  

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles MichelBild: AP/picture alliance

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hielt dagegen: "Es gibt in der EU-Kommission und im Europaparlament seit langem die Auffassung, dass Stacheldraht und Mauern nicht finanziert werden." Aber als Ratspräsident Charles Michel jetzt nach Warschau fuhr, um die polnische Regierung der Solidarität der EU zu versichern, erklärte er glatt das Gegenteil. "Es gibt auch eine Debatte darüber ob physische Infrastruktur von der Europäischen Union finanziert werden kann", sagte Michel. "Man muss hier die Fähigkeit der EU klären, den Ländern ihre Solidarität zu beweisen, die in erster Reihe stehen und ihre nationalen Grenzen schützen, die gleichzeitig Außengrenzen der EU sind."

Ob er diese Kursänderung mit den großen Mitgliedsländern abgestimmt hat, ist offen, aber Michel weiß zumindest die Unterzeichner des Briefes vom Oktober auf seiner Seite. Und auf nationaler Ebene ist die Abriegelung der Außengrenzen längst im Gange: Ungarn hatte als erstes Land während der Flüchtlingskrise 2015 angefangen, an seinen Grenzen Mauern und Zäune zu bauen und dadurch die ursprüngliche Balkanroute umgelenkt. Griechenland, Bulgarien und andere folgten, sodass inzwischen insgesamt schon rund 1000 Kilometer Grenzanlagen an den EU-Außengrenzen entstanden sind.  

Zunehmende Berichte über Pushbacks

Im Mittelmeer, vor allem vor der Küste Libyens werden Pushbacks schon seit Jahren praktiziert: EU-Schiffe drängen Flüchtlingsboote zurück in libysche Gewässer, wo sie von der dortigen Küstenwache aufgesammelt werden. Italien arbeitet offiziell mit den Libyern zusammen und hat die dortige Küstenwache mit Ausbildung und Gerät unterstützt - ungeachtet der entsetzlichen Zustände in libyschen Lagern, wo Migranten gefoltert und um Geld erpresst werden.

Von Litauen...Bild: State Border Guard Service/picture alliance/dpa/

Aber auch aus Griechenland, Kroatien und Bulgarien kommen Berichte über die teils gewaltsame Zurückweisung von Flüchtlingen, denen rechtswidrig die Chance verwehrt wird, auf europäischen Boden einen Asylantrag zu stellen. UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi hielt sich bei seinem jüngsten Auftritt im Europaparlament mit Kritik nicht zurück. "Die gegenwärtigen Praktiken einiger Staaten sind besorgniserregend: Die Mauern und der Stacheldraht, die gewaltsamen Pushbacks, wobei Migranten auch geschlagen werden, ausgezogen und in Flüsse geworfen oder auf dem Meer dem Ertrinken anheim gegeben", sagte Grandi. "Und der Versuch, Verpflichtungen zu umgehen, indem man Drittstaaten dafür bezahlt, die Verantwortung zu übernehmen". 

...über Griechenland...Bild: Nicolas Economou/NurPhoto/imago images

Die NGO "Border Violence Monitoring Network" berichtet, dass Griechenland zwischen Anfang 2020 und Sommer 2021 mehr als 6000 Flüchtlinge zu Lande und zu Wasser zurückgeschoben hat, teilweise mit gewaltsamen Mitteln. Über 18.000 Fälle soll es nach der Zählung des "Danish Refugee Council" seit Beginn der Pandemie in Kroatien gegeben haben. Und das UN-Flüchtlingshilfswerk hat in Libyen im gleichen Zeitraum mehr als 15.000 Fälle registriert.

...und Polen...Bild: Viktor Tolochko/Sputnik/picture alliance/dpa

Bei der Debatte im Europaparlament verteidigte der EVP Abgeordnete Jeroen Lenaers die zunehmend abweisende Haltung in vielen Mitgliedsländern. "Sie sehen, dass viele Leute, die derzeit Europa erreichen wollen, keine Flüchtlinge sind und dass die Asylverfahren missbraucht werden von denen, die keinen internationalen Schutz brauchen, zu Lasten von Menschen in Not", so Lenaers. "Sie sehen kriminelle Banden, die Migration in ein Multimilliarden-Dollar-Geschäft verwandelt haben und sie sehen Diktatoren, die Migration in einer hybriden Kriegsführung gegen die EU einsetzen".

...bis hin zur spanischen Exklave Ceuta schützen zunehmend massive Anlagen die EU-Außengrenzen.Bild: Antonio Sempere/AFP/Getty Images

Der Eindruck war entstanden, weil zeitweise in Italien auffällig viele Migranten aus nordafrikanischen Ländern wie Tunesien, Marokko oder Algerien mit Flüchtlingsbooten gelandet waren, die in der Regel keinen Asylanspruch haben. In der offiziellen Statistik der EU jedoch dominierten 2020 die Herkunftsländer Syrien und Afghanistan, gefolgt von Venezuela und Kolumbien, deren Bürger vor allem in Spanien Aufenthalt suchen, gefolgt von Iran, Pakistan und der Türkei. Bei diesen Flüchtlingen liegt keinesfalls auf der Hand, dass sie nicht schutzbedürftig wären.

In einigen EU-Ländern, wie etwa Dänemark, die früher als liberale Zufluchtsorte galten, hat sich die politische Stimmung vollständig gedreht: Gegen den Rat internationaler Organisationen will die dänische Regierung jetzt syrische Staatsbürger zur schnellen Heimkehr zwingen mit dem Argument, Teile des Landes wie etwa die Hauptstadt Damaskus seien für sie sicher. 

"...dann wird mir kalt ums Herz"

Die Europaabgeordnete Sophie in ’t Veld erinnerte demgegenüber daran, dass, als vor 70 Jahren das Genfer Flüchtlingsabkommen unterzeichnet wurde, Millionen von Europäern selbst noch auf der Flucht waren. "Heute sind wir glücklicherweise der sicherste, reichste und freieste Kontinent der Welt. Wir haben 1951 vergessen und statt Flüchtlingen zu helfen sind wir dabei, Europa in eine Gated Community zu verwandeln", erklärte in ’t Veld von der niederländischen linksliberalen Partei Democraten 66. "Und wenn ich den Ratspräsidenten sagen höre, ja sicherlich kann die EU den Bau von Mauern an den Grenzen bezahlen, dann wird mir kalt ums Herz".

Die linksliberale Europaabgeordnete Sophie in ’t Veld Bild: picture-alliance/Xinhua News Agency/J. Borg

Man muss abwarten, welche Position die neue Bundesregierung beziehen wird, aber sonst finden sich in Europas Hauptstädten nicht mehr Viele, die den Schutz von Flüchtlingen zum Thema machen. Luxemburgs Xavier Bettel war einer der wenigen, die bei der Debatte über die Krise an der polnisch-belarussischen Grenze beim Oktobergipfel auf die humanitäre Seite hinwies: "Diese Menschen werden nicht richtig behandelt, von verschiedenen europäischen Ländern", sagte er. "Eine geordnete Migration muss möglich bleiben. Wir müssen die richtige Balance finden."

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