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PolitikEuropa

EU: Auf Abschieben nach Afghanistan verzichten

10. August 2021

Die umfangreichen Hilfszahlungen der EU sind in Gefahr, falls die Taliban die komplette Macht in Afghanistan übernehmen. Derweil empfiehlt die EU, Abschiebungen nach Afghanistan auszusetzen. Von Bernd Riegert, Brüssel.

Die militant-islamistischen Taliban-Milizen rücken in Afghanistan weiter vor. Mittlerweile sollen sie die siebte Provinzhauptstadt eingenommen haben. Je mehr ausländische Truppen aus Afghanistan abziehen, desto schneller scheinen die Taliban militärische Erfolge feiern zu können. Die Gegenwehr der afghanischen Sicherheitskräfte, die von den NATO-Staaten ausgebildet wurden und immer noch finanziert werden, ist schwach.

Die sich zuspitzende Sicherheitslage hat die acht in Kabul verbliebenen Botschafter aus EU-Mitgliedsstaaten und den EU-Gesandten veranlasst, einen drastischen Lagebericht an die EU-Zentrale in Brüssel und die EU-Mitgliedsstaaten zu schicken.

Die Diplomaten, deren Schreiben entgegen der üblichen Gepflogenheiten öffentlich wurde, empfehlen aufgrund der prekären Sicherheitslage auf Abschiebungen von Afghanen ohne Bleiberecht in der EU zu verzichten. Die afghanische Regierung hatte bereits die Aufnahme von zwangsweise zurückgeführten Personen für die nächsten drei Monate abgelehnt. Nach Einschätzung der EU-Kommission in Brüssel herrsche damit de facto derzeit ein Abschiebestopp. Auch Deutschland und Österreich hätten zuletzt auf entsprechende Flüge verzichtet, sagte ein hoher Kommissionsbeamter der EU in Brüssel.

Deutschland will weiter abschieben

Der deutsche Innenminister Horst Seehofer (CSU) hatte sich allerdings erst am Montag zusammen mit fünf weiteren EU-Staaten  in einem offiziellen Schreiben an die EU-Kommission gewandt und verlangt, dass die Abschiebungen von straffällig gewordenen Asylsuchenden nicht unterbrochen werden sollenDie EU-Kommission koordiniert bislang im Auftrag der Mitgliedsstaaten die Buchung der Abschiebe-Flüge. "Nur weil Regionen eines Landes gefährlich sind, bedeutet das nicht, dass jede Person aus diesem Land das Recht auf Schutz hat", schrieb der belgische Innenminister Sammy Mahdi auf Twitter. Er hatte den Brief für Belgien unterzeichnet.

Die EU-Kommission stellte am Dienstag noch einmal klar, dass die Mitgliedsstaaten selbst entscheiden, wer wann abgeschoben werden soll. In diesem Jahr gab es aus der gesamten EU bislang 1200 Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerbern nach Afghanistan. 1000 Personen hätten finanzielle Mittel angenommen und seien dann freiwillig zurückgegangen. Bei 200 Personen erfolgte die Abschiebung gegen den Willen der Betroffenen aus der Abschiebehaft heraus.

Ein Bündnis von 26 Hilfsorganisationen hatte in Deutschland einen Aufruf veröffentlicht, in dem ein sofortiger Stopp der Abschiebungen gefordert wird. "Jede Abschiebung nach Afghanistan verstößt aktuell gegen das Völkerrecht", erklärte Markus Beeko, Generalsekretär der deutschen Sektion von Amnesty International. In der Afghanistan-Politik finde ein unwürdiges Pingpong-Spiel zwischen Bund und Ländern auf dem Rücken vieler bedrohter Menschen statt", kritisierte der Geschäftsführer von "Pro Asyl", Günther Burkhardt. Norwegen, Schweden und Finnland verzichten zurzeit offiziell auf Abschiebungen nach Afghanistan.

Abschiebeflug von Leipzig nach Kabul: Mit gecharterten Maschinen werden Afghanen abgeschoben (Archivbild)Bild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Ehemalige Mitarbeiter schützen

Und in die Gegenrichtung? Die EU-Kommission versicherte heute, dass sie mit den USA und den 22 EU-Mitgliedsstaaten, die Truppen in Afghanistan stationiert hatten, an einer Lösung für ehemalige afghanische Ortskräfte arbeite. Die USA, Deutschland und andere Staaten hatten zugesagt, Dolmetscher und andere Mitarbeiter sowie deren Familien, die von den Taliban bedroht werden, außer Landes zu bringen. EU-Beamte vermittelten den Eindruck, dass die Evakuierung der ehemaligen Mitarbeiter schneller gehen könnte. Es müssten insgesamt mehr humanitäre Visa für die am stärksten bedrohten Gruppen ausgestellt werden.

Ein größeres Anwachsen der Migration aus Afghanistan nach Europa sieht die EU-Kommission noch nicht. In diesem Jahr seien rund 4000 afghanische Asylbewerber in der EU registriert worden, so wenig wie noch nie seit dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im Jahr 2015. Die große Mehrheit, nämlich 90 Prozent, der afghanischen Flüchtlinge und Migranten halten sich in Pakistan und dem Iran auf. Europa zu erreichen sei für Afghanen sehr schwer, meint zum Beispiel der Migrationsforscher Gerald Knaus. Allerdings warnen andere Migrationsexperten davor, dass die Zahlen in den nächsten Monaten steigen könnten, wenn die Taliban die Macht in Afghanistan übernehmen sollten.

Eine Zunahme der afghanischen Migranten in der Türkei könnte dazu führen, dass der Konflikt zwischen Ankara und der EU, um die Aufnahme von Migranten wieder aufflammt. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hatte den sogenannten "Flüchtlings-Deal" mit der EU ausgesetzt, weil die Europäer ihre Zusagen nicht einhalten würden, so Erdogan. Nach dem Deal soll die Türkei vor allem syrische Flüchtlinge aus Griechenland zurücknehmen und dafür Milliarden Euro für die Versorgung von Flüchtlingen im eigenen Land erhalten. Außerdem sollte eine kleine Anzahl von Flüchtlingen und Asylbewerbern direkt aus der Türkei in die EU übernommen werden.

Kundus: Taliban erobern die Stadt, in der einst deutsche Soldaten stationiert warenBild: Abdullah Sahil/AP/picture alliance

Hilfsgelder nur für funktionierende Regierung

Die EU stellt mit insgesamt 1,2 Milliarden Euro die Hälfte aller Hilfs- und Aufbaugelder für Afghanistan in den kommen drei Jahren. Das Geld könne natürlich nur ausgezahlt werden, wenn es eine funktionierende Regierung in Afghanistan gebe, die sich an demokratische Grundsätze halte und die Rechte von Frauen, Kindern und Schülern achte, erklärte ein EU-Diplomat.

Außerdem zahlt die EU im Moment die Gehälter für die afghanische Polizei. Sie unterstützt die Ernährung von 18,4 Millionen Afghanen, das ist fast die Hälfte der Bevölkerung. "Wir sind extrem besorgt über das schnelle Anwachsen der Bedürftigkeit", sagte eine EU-Beamtin in Brüssel in einem Hintergrundgespräch.

"Die Kämpfe in Afghanistan zerstören auch die Infrastruktur der Hilfsorganisationen." Irgendwann werde das schon jetzt chronisch unterfinanzierte Hilfssystem zusammenbrechen, befürchtet die EU-Beamtin. "Die Taliban brauchen uns für die Versorgung der Bevölkerung und für Investitionen - und das wissen sie auch", meinte ein weiterer EU-Diplomat.

Keine Berührungsängste: Chinas Außenminister Wang Yi (re.) empfängt Talibanführer Abdul Ghani Baradar am 28. Juli in TianjinBild: Li Ran/Xinhua/AP/picture alliance

Die Türkei, Russland, China und andere Geberländer sind bei der Hilfe für Afghanistan im Prinzip an dieselben Grundsätze gebunden wie die EU. Diese wurden zuletzt bei einer Geber-Konferenz im Herbst 2020 festgelegt. Doch was passiert, wenn die Taliban die Zentralregierung in Kabul übernehmen? Das können auch die EU-Beamten in Brüssel, die sich mit Afghanistan beschäftigen, nicht vorhersagen.

"Sicher ist nur, dass China ein überwältigendes Interesse an den Mineralien und seltenen Erden in Afghanistan angemeldet hat", sagte einer von ihnen. Eine partielle Zusammenarbeit zwischen einer militant-islamistischen Regierung und der kommunistischen Diktatur wäre also nach dem völligen Rückzug der USA und der NATO zumindest denkbar.

 

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union
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