EU: Neue deutsche Regierung, alte Probleme
24. September 2021Klimawandel, Wiederaufbau nach Corona, Migration, außenpolitische Souveränität der EU, Erweiterung um Balkanstaaten. Die Liste von europapolitischen Problemen, die auf die neue Bundesregierung nach der Bundestagswahl am 26. September wartet, ist lang und wird mit der aktuellen Krise um Afghanistan noch länger. Viele der Themen, bei denen Europa vom neuen schwarzen oder roten Kanzler oder - eher unwahrscheinlich - von einer grünen Kanzlerin Führung und Vermittlung erwartet, liegen seit Jahren auf dem Tisch. Keine Überraschungen also.
Auch die Rezepte der neuen Mannschaft in Deutschland werden wohl eher auf ein "Weiter so", auf ein "Weiter-Merkeln" hinauslaufen, vermutet Janis Emmanouilidis. "Die Erwartung ist, dass es viel mehr Kontinuität als Wandel aus Berlin geben wird. Die grundsätzliche Ausrichtung der Europapolitik wird sich nicht ändern", sagt der Direktor der Denkfabrik "European Policy Centre" in Brüssel.
Die Aussagen zur Europapolitik sind im Wahlkampf vage. Alle Parteien, außer der rechtspopulistischen AfD, sehen Deutschland fest in der EU eingebettet, mit natürlich großem Einfluss, als bevölkerungsreichstes und wirtschaftlich stärkstes EU-Mitglied. Die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock setzt auf die EU beim Erreichen der Klimaziele. Klimaschutz gehe nur gemeinsam, so Baerbock in einer europapolitischen Rede im Bundestag Ende Juni. "Das schaffen wir, indem wir das ganze Versprechen Europas erneuern, auch das Versprechen zu unseren Werten. Das bedeutet auch innerhalb Europas eine deutliche Sprache zu finden, wenn die Menschenrechte in anderen Ländern - wie in Ungarn - mit Füßen getreten werden."
Ernstes Problem Rechtsstaatlichkeit
Annalena Baerbock spricht einen Konflikt an, der für die neue Regierung innerhalb der EU zum Problem werden könnte: Der Streit um die Rechtsstaatlichkeit von Polen und Ungarn, die beide die Unabhängigkeit ihrer Justiz gefährden, sexuelle Minderheiten ins Visier genommen haben und die Medien drangsalieren. So nachzulesen in entsprechenden Berichten der EU-Kommission und Urteilen des Europäischen Gerichtshofes. Der bittere Disput zwischen der polnischen und ungarischen Regierung und den EU-Institutionen könnte sich in den nächsten Jahren zum echten Spaltpilz entwickeln, meint Europa-Experte Janis Emmanouilidis: "Es besteht die Gefahr, dass der Mangel an Zusammenhalt in der EU in Zukunft wirklich ein ernstes Problem wird. Es gibt starke Konflikte mit den Regierungen einiger Mitgliedsstaaten. Und das wird weitergehen."
Die Rolle der nächsten Bundesregierung? Mehr Druck machen zum Beispiel auf die nationalkonservative Regierung der PiS-Partei in Polen? Der ehemalige Berater der PiS-Regierung, Tomasz Krawczyk, schied im Streit aus den Diensten von Premier Mateusz Morawiecki aus. Er wollte nicht länger als das liberale Feigenblatt herhalten, während die Regierung die Unabhängigkeit der Justiz abbaute.
Krawczyk arbeitet heute als Lobbyist, hat aber klare Ansichten zum Streit zwischen der EU und der polnischen Regierung. Die bisherige Kanzlerin Angela Merkel sei Polen und Ungarn sehr gewogen gewesen und habe versucht zu vermitteln, so Politik-Berater Krawczyk. Das werde sich ändern. "Die neue Bundesregierung wird kein Vermittler mehr sein, sondern viel direkter auf der Seite der Europäischen Kommission und des Europaparlaments stehen, was für Polen ein sehr, sehr großes Problem sein wird." Jede Koalitionsregierung, in der die Grünen vertreten seien, mache es für Polen schwieriger, meint Krawczyk.
Der Chef der EU-Denkfabrik "European Policy Centre" in Brüssel sieht es genauso: "Wir gehen davon aus, dass die neue Regierung, die wahrscheinlich die Grünen umfassen wird, eine andere Haltung zum Streit um Rechtsstaatlichkeit haben wird. Sie wird rigoroser sein. Es wird mehr Druck aus Berlin bei diesem Thema geben", sagt Janis Emmanouilidis.
In einer Bundesregierung mit grüner Beteiligung stecken auch Chancen, meint der ehemalige polnische Regierungsberater Krawczyk. "Ich habe seit langem im konservativen Lager gesagt, dass man mit den Grünen Gespräche anfangen sollte, weil es viele Themen gibt, wie z.B. das Verhältnis zu Russland, Ablehnung der Pipeline Nordstream 2 et cetera, wo die Meinungen der Grünen viel näher am PiS-Lager in Polen liegen, als die Meinungen von CDU und CSU."
Druck aus Berlin nötig
Der ehemalige EU-Botschafter in Warschau, der polnische Diplomat Marek Prawda, erwartet nach der Bundestagswahl ein härteres Vorgehen gegenüber Staaten wie Polen oder Ungarn. Der Geldbeutel werde dabei eine große Rolle spielen, denn schließlich sind Polen und Ungarn große Nettoempfänger von Zuschüssen aus der EU, während Deutschland der größte Einzahler ist. "Sehr viele sehen jetzt nicht mehr ein, dass man die Milliardenbeträge an die Netto-Empfänger überweist, ohne dass diese die vereinbarten Regeln akzeptieren. Das wird jetzt nicht mehr so funktionieren. Man versteht, dass hier etwas mehr auf dem Spiel steht", meint Marek Prawda, der auch polnischer Botschafter in Deutschland war.
Ganz so offen droht der mögliche nächste Bundeskanzler Armin Laschet (CDU) nicht mit Strafen. Laschet gab sich bei seinem Besuch in Warschau im August eher versöhnlich. "Polen ist mit dem Beitritt zur Europäischen Union auch Mitglied der europäischen Rechtsgemeinschaft geworden. Deshalb haben wir auch über die Frage gesprochen, wie kann überall der gleiche Rechtsstandard eingehalten werden. Ich glaube hier, einen gemeinsamen Weg weiter zu suchen, ist für Europa wichtig." Er wolle eine "pragmatische" Lösung erreichen, gab Armin Laschet zu verstehen.
Zank mit Ungarn
Werden pragmatische Lösungen auch mit Ungarn gefunden werden können? Zurzeit streiten die EU und Ungarn um ein Gesetz, das schwule und lesbische Inhalte aus den Medien und der Kindererziehung verbannt. Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, nannte das Gesetz "eine Schande". Beim letzten EU-Gipfel hat der niederländische Premier Mark Rutte, dem ungarischen Regierungschef den Austritt aus der EU nahegelegt. Bundeskanzlerin Merkel nannte das LGBTQ-diskriminierende Gesetz "falsch".
Was werden ihre Nachfolger in diesem fundamentalen Streit um Grundrechte tun? Am besten gar nichts, meint die ungarische Justizministerin Judith Varga. "Wir sehen überhaupt keinen Konflikt zwischen EU-Recht und unserer nationalen Gesetzgebung. Es geht darum, unsere Kinder zu schützen. Das stimmt mit den Grundrechten überein", sagte Judit Varga beim Justizministertreffen im Juni.
Die Überlegung, der deutsche Netto-Zahler und die EU-Kommission könnten Gelder aus dem EU-Coronafonds zurückhalten, um Ungarn zu maßregeln, weist die Ministerin zurück. "Wir sollten politische und ideologische Fragen nicht mit wirtschaftlichen Fragen verquicken. Europa braucht Wiederaufbau. Dieses Geld steht den ungarischen Bürgern zu, die dafür gearbeitet haben." Ob ihnen das wirklich zusteht, darüber wird der Europäische Gerichtshof entscheiden, dessen Autorität inzwischen von Ungarn und vor allem von Polen angezweifelt wird.
Visionen gefällig?
Die Baustellen in Polen und Ungarn werden für die nächste Bundesregierung also groß sein. Nur wenn es gelingt, den Streit um die Rechtsstaatlichkeit zu lindern, kann es bei anderen europäischen Projekten Fortschritte geben. Klimawandel, Migration, Digitalisierung, Wirtschaftspolitik lassen sich nur voranbringen, wenn es einen Zusammenhalt, Kohäsion und keine Fliehkräfte innerhalb der 27 EU-Staaten gibt. Darüber berät gerade eine von der EU einberufene "Konferenz zur Zukunft Europas", in die die deutsche Bundesregierung bislang noch keine wesentlichen Ideen eingebracht hat.
Das müsse sich nach der Wahl ändern, meint der Brüsseler EU-Experte Janis Emmanouilidis: "Es wäre gut, wenn es eine Idee geben würde, in welche Richtung sich Europa bewegen soll in Zukunft. Jemand muss die Richtung vorgeben. Allerdings bin ich nicht sehr zuversichtlich, dass dieser Impuls von der neuen Regierung in Berlin kommen wird."
Janis Emmanouilidis geht eher davon aus, dass die neue Regierung, das werde machen müssen, was die alte Bundeskanzlerin fast immer beherrschte: Krisen meistern, Krisen managen. "Der neue Kanzler, die Kanzlerin, muss die Verantwortung dafür übernehmen, die EU durch bislang unbekanntes Terrain zu führen, sobald sich eine Krise auftut."