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PolitikEuropa

Russen raus? Die EU ist gespalten

28. August 2022

Reisebann für Menschen aus Russland? Oder weiter Kontakte zulassen - trotz des Krieges gegen die Ukraine? Die EU-Außenminister versuchen, eine einheitliche Linie zu finden. Ein Visa-Abkommen könnte ausgesetzt werden.

Estland | Eine Frau hält einen Russischen Pass
Reisen mit russischem Pass wird schwieriger - doch in 90 Staaten weltweit können Russen weiterhin visafrei einreisenBild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

Mit seinem Appell, russischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern die Einreise in die EU zu verbieten, hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj eine heftige Debatte in Europa ausgelöst. Kann es sein, dass die Bürger eines Staates, das einen Angriffskrieg gegen ein Nachbarland führt, weiter in die EU einreisen können, als wäre nichts geschehen?

Nein, sagen Finnland, Polen, Tschechien und die baltischen Staaten. Sie haben die Vergabe kurzfristiger Visa an Russen gestoppt. Deutschland, Griechenland, Zypern und die Europäische Kommission sind skeptisch und lehnen ein rigides Einreiseverbot für Russen ab. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sagte vergangene Woche, dies sei der Krieg des russischen Machthabers Wladimir Putin. Deshalb tue er sich schwer mit einem generellen Einreiseverbot, das auch Unschuldige treffen würde.

Die tschechische EU-Ratspräsidentschaft hat den Streit um die Visa auf die Tagesordnung des informellen EU-Außenministertreffens am Dienstag in Prag gesetzt. Es wird erwartet, dass zumindest ein Abkommen mit Russland zur Vereinfachung des Visaverfahrens, das seit 2007 in Kraft ist, aufgekündigt werden könnte. Das haben EU-Diplomaten gegenüber der Financial Times bestätigt. Eine Suspendierung des Visa-Abkommens würde die Beantragung eines Kurzzeit-Visums für den Schengen-Raum verteuern und komplizierter machen. Ein Sanktionsbeschluss für ein totales Einreiseverbot, der Einstimmigkeit erforderte, ist nach Angaben von Diplomaten, nicht vorgesehen. Alleingänge einzelner Mitgliedsstaaten brächten nicht viel, weil ein Kurzzeit-Visum für Touristen im Prinzip in allen 26 Ländern der kontrollfreien "Schengenzone" gilt, egal von welchem Land es ausgestellt wurde. 

Das Schengen-Visum eröffnet eine Reisezone aus 26 Staaten für 90 TageBild: picture alliance/ZB

Wie groß ist das Problem?

Nach Angaben der EU-Grenzagentur Frontex hat es seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine vor einem halben Jahr fast eine Million Einreisen russischer Passinhaber in die EU gegeben. Die große Mehrheit der Einreisen erfolgten über Finnland (330.000), Estland (234.000) und Litauen (132.000). Es handelt sich hauptsächlich um Touristen, die für einige Tage kommen. Es wurden aber nicht eine Million Visa ausgestellt, denn die Menschen aus Russland können mit demselben 90-Tage-Visum mehrfach in die Schengenzone ein- und ausreisen. Vor der Corona-Pandemie wurden von den Schengen-Staaten jährlich rund 500.000 neue Visa an Russen vergeben.

Finnland erwägt Einreiseverbot für Russen

02:56

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Wohin reisen die Russen?

Die hohe Zahl der Einreisen über den Landweg in die Nachbarstaaten im Osten der EU lässt sich dadurch erklären, dass es keine direkten Flugverbindungen mehr zwischen Russland und der EU gibt. Länder wie Deutschland oder Frankreich sind also viel schwerer zu erreichen. Von deutschen Konsulaten in Russland wurden nach Angaben des Auswärtigen Amtes im ersten Halbjahr rund 14.000 Kurzzeit-Visa erteilt. Vor der Pandemie und dem Krieg waren es im ersten Halbjahr 2019 annähernd zehn Mal so viele. Auch auf dem Champs-Elysee in Paris dürften die russischen Urlauber in diesem Jahr weniger zahlreich sein: Nach Frankreich darf man als Russe nur aus einem Drittstaat einreisen, nicht im Transit aus anderen EU-Staaten. Ein Flug von Moskau über Istanbul nach Paris ist möglich. Ein Flug von Helsinki nach Paris hingegen nicht.

Große Kontingente von Urlaubern aus Russland verzeichnen Griechenland und Zypern. Ein Viertel aller Touristen auf Zypern kam dieses Jahr aus Russland. Rund 50.000 Russen leben permanent auf Zypern. Nordgriechenland ist ein beliebtes Reiseziel für Russen, die über Serbien und die Türkei in das EU-Land einreisen. EU-Beitrittskandidat Montenegro, sonst ebenfalls ein beliebtes Ziel für Russen, verzeichnet viel weniger Touristen. Viele weichen in die Türkei aus. Die Türkei trägt, obwohl NATO-Mitglied und EU-Beitrittskanidat, westliche Sanktionen gegen Russland nicht mit, sondern erlaubt nach wie vor die komplett visafreie Einreise von Russinnen und Russen. 

Montenegro, EU-Betrittskandidat und NATO-Mitglied: Russische Touristen meiden das Land dieses Jahr Bild: National Tourists Organization of Montenegro

Kann die Visavergabe eingeschränkt werden?

Ein völliger Visa-Bann wäre aus Sicht der EU-Kommission schwierig, denn aus familiären und humanitären Gründen müssen Einreisen nach internationalem Recht möglich sein. Die Vergabe von Kurzzeit-Visa für die Schengenzone kann aber stark eingeschränkt werden. Jeder Mitgliedsstaat hat einen Ermessensspielraum bei Prüfung der Anträge. Die Staaten haben auch die Möglichkeit, erteilte Visa zu widerrufen. Das praktiziert Estland bereits. Schengen-Visa müssen in jedem Staat akzeptiert werden. Estland kann also nicht einfach einem Visum die Anerkennung verweigern, das von Deutschland oder Schweden ausgestellt wurde. Das ist schon wegen  fehlender Grenzkontrollen innerhalb der Schengenzone kaum möglich. Es gilt aber nach dem Visa-Code der EU einschränkend, dass sich ein Tourist mit Schengenvisum hauptsächlich in dem Land aufhalten soll, das sein Visum ausgestellt hat. Die Ablehnung von Visa kann mit der veränderten politischen Lage und Sicherheitsbedenken begründet werden.

Welche Einschränkungen gibt es bereits?

Neben Estland, Litauen, Lettland, Finnland, Polen und Tschechien will auch Dänemark seine Visavergabe einschränken. Nach Angaben des Visa-Vermittlungsdienstes "Fragomen" haben auch die Niederlande, Belgien, Spanien und Rumänien die Vergabe von Sichtvermerken stark zurückgefahren. Viele Staaten haben ihre Konsulate oder Botschaften in Russland stark ausgedünnt, so dass die persönliche Vorsprache für einen Visatermin sehr erschwert wird. Ein Abkommen der EU zur erleichterten Vergabe für Visa mit Russland wurde für Diplomaten, Regierungsbeamte und Geschäftsleute ausgesetzt, ist aber im Prinzip noch in Kraft. Würde das Abkommen gekündigt, wäre es mühsamer und teurer für russische Staatsbürger, Visa-Anträge zu stellen. Da Russen keine westlichen Kreditkarten oder Konten mehr nutzen dürfen, können fehlende finanzielle Mittel als Grund für eine Ablehnung des Visa-Antrages angeführt werden.

Dostojewskis Büste in Baden-Baden: Die deutsche Kurstadt ist seit Jahrhunderten bei russischen Reisenden beliebtBild: Uli Deck/dpa/picture alliance

Was sind "nationale Visa"?

Die EU-Mitgliedsstaaten können Visa zur permanenten Einreise und zum Aufenthalt auf dem eigenen Staatsgebiet ausstellen. Diese Visa für Menschen, die arbeiten, studieren oder forschen wollen, berechtigten nicht zur Ausreise in andere Schengen-Staaten. Um diese Visa könnten sich auch russische Oppositionelle bewerben, die wegen des Angriffskrieges ihr Land verlassen wollen. Von diesen nationalen Visa hat Deutschland im ersten Halbjahr 2022 etwa 10.000 ausgestellt.

Was können die europäischen Außenminister tun?

Der Migrationsexperte der deutschen Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP), Raphael Bossong, empfiehlt bessere Koordination und ein Zurückfahren der Visavergabe nicht durch Verbote, sondern durch das Ausnutzen geltender Regeln. Nicht jeder Mitgliedsstaat solle vor sich hinwursteln. "Wir haben das Interesse an einer gemeinsamen europäischen Linie und in dem Sinne kann sich Deutschland noch etwas mehr auf osteuropäische und baltische Mitgliedsstaaten zubewegen", sagte Raphael Bossong in einem Podcast des SWP. "Es gibt einen nationalen Ermessensspielraum. Wir Deutschen bewegen uns etwas mehr in Richtung Restriktion. Wir versuchen, wie die Finnen, touristische Reisen stärker von anderen Besuchszwecken zu trennen. Zum Ausgleich eröffnen wir andere Wege, seien es humanitäre Visa oder Visa zur Arbeitsmigration oder dergleichen mehr."

Russische Touristen in Antalya in der Türkei: Visafrei und gern gesehen (Archiv)Bild: Chris McGrath/Getty Images

Was fordern EU-Parlamentarier?

In einem offenen Brief an den EU-Beauftragten für Außenpolitik, Josep Borrell, fordern EU-Abgeordnete, die Visavergabe einzuschränken und gegen mindestens 6000 Personen aus der russischen Führungselite ein völliges Reiseverbot zu erlassen. Der Fraktionsvorsitzende der Christdemokraten im EU-Parlament, Manfred Weber (CSU), hält es für ein Unding, wenn Russen auf Sylt Urlaub machen und im Restaurant dann von ukrainischen Kellnern bedient werden. "Das ist für mich schwer vorstellbar, dass wir gleichzeitig Flüchtlinge aus der Ukraine haben und Russen, die hier das Leben genießen", sagte Weber im ARD-Fernsehen.

Visafrei in der Türkei: Ukrainische Demonstranten und russische Touristen treffen in Istanbul direkt aufeinanderBild: DW

Was machen andere Staaten?

Die USA haben die Ausstellung von Kurzzeit-Visa in Russland eingestellt. Anträge können jetzt in der Botschaft in der polnischen Hauptstadt Warschau gestellt werden, wenn die Russen es schaffen, dorthin zu gelangen. US-Präsident Joe Biden hat junge russische Wissenschaftler, Unternehmer und Leistungsträger aufgefordert, ihr kriegführendes Land zu verlassen. Dieser "Brain Drain" soll mit großzügiger Vergabe von langfristigen Aufenthaltstiteln gefördert werden.

Das Vereinigte Königreich will keinen generellen Reisestopp für Russen verordnen, aber die Visa-Vergabe stark einschränken, sagte Verteidigungsminister Ben Wallace in einem Interview.

 

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union
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