2018 starben in Europa rund 8200 Menschen an einer Überdosis, wie es im Europäischen Drogenbericht heißt. In den USA ist diese Zahl zehnmal höher. Was ist dort schiefgelaufen und was machen die Europäer anders?
Anzeige
Ein sommerlicher Morgen in Bonn: Drogenabhängige treffen sich in einem lebendigen, lichtdurchfluteten Café unweit vom Hauptbahnhof. Zusammen trinken sie Kaffee für 50 Cent, plaudern und rauchen Zigaretten. Einige lesen drinnen Zeitungen, während andere an Picknicktischen auf der Terrasse sitzen. Viele kennen sich und kommen jeden Tag zum Essen oder auch zum Duschen.
Wenn sie irgendwann ihre Drogen nehmen wollen - in der Regel Heroin, Kokain, Amphetamin und andere Pillen - dürfen sie das in einem sterilen Raum im Hinterhof des Cafés tun. Danach müssen sie nicht in der Nähe bleiben, wenn sie es nicht wollen. Und es wird sie niemand bei der Polizei anzeigen.
Mitarbeiter wie Maik Schütte, der Koordinator des Kontaktcafes, scherzen mit den Kunden. Die Arbeit macht ihm Spaß, er ist seit zehn Jahren in dem Café. Das Kontaktcafe biete eine angenehme Umgebung für interessante Menschen, sagt er. Und er weiß, dass er ihnen hilft. Das Cafe ist einer von 24 sicheren Orten in Deutschland, wo Drogenabhängige sich Spritzen setzen können.
Zur Mittagszeit essen viele die warmen 50-Cent-Mahlzeiten, die dort täglich serviert werden. Heute gibt es Suppe und Brot. Wenn ihnen das Angebot nicht gefällt, können sie in ein ähnliches Café gehen, das von einer anderen Organisation für Drogenabhängige in Bonn betrieben wird. Die Kunden haben also die Wahl.
Die derzeit gelebte Normalität in Bonn ist ein Spiegelbild dessen, was sich auch durch den diesjährigen Bericht der EU-Drogenagentur EMCDDA zieht. Bemerkenswert ist vor allem, was nicht in dem Bericht steht, nämlich dramatische Meldungen über einen rasanten Anstieg des Drogenkonsums.
Der aktuell veröffentlichte Bericht erzählt die vergleichsweise zahme Geschichte von Drogenabhängigkeit in Europa im Jahr 2018. Zwar ist die Zahl der Todesfälle durch Überdosierung leicht angestiegen - im vergangenen Jahr starben etwa 8.200 Menschen an einer Überdosierung, rund 300 mehr als 2017 -, gleichzeitig nimmt aber der Heroinkonsum ab. Auch die Ausbreitung von HIV ist in den letzten zehn Jahren um 40% zurückgegangen.
Marijuana ist laut Bericht die am häufigsten konsumierte Droge. Auch der Kokainkonsum nimmt zu. Ferner stellt der Bericht eine "Uberisierung" des Kokainhandels fest. Das heißt: Nutzer und Händler verabreden sich per Handy-Apps, um die Übergabe zu verabreden.
Wie erwartet waren die meisten der 8.200 Überdosen auf Opioide zurückzuführen. Bemerkenswerterweise ist hier weiterhin Heroin an erster Stelle. Fentanyl oder Oxycodon, die in den USA zur derzeitigen Opioid-Krise geführt haben, spielen in Europa noch keine so große Rolle.
Für die Schmerzbehandlung zugelassene Opioide können bei Missbrauch stark süchtig machen, wie die aktuelle Situation in den Vereinigten Staaten zeigt. Dort sind 2017 etwa 70.000 Menschen durch eine Überdosis Oxycodon oder Fentanyl gestorben. Dieser Trend hat Europa bisher nicht so stark erreicht, aber das könnte sich nach Ansicht des Berichts ändern, wenn die Europäische Union ihre Drogensituation nicht genau im Blick behält.
Nachdem sich das aus Afrika stammende HIV/Aids-Virus in den 1980er Jahren in New York City ausbreitete, erforderte dies auch eine Neubewertung der Drogenpolitik. Drogenabhängige zu kriminalisieren und in Entziehungskuren zu schicken reichte nicht aus, um die Ausbreitung der Seuche einzudämmen. Wer Drogen konsumieren wollte, tat dies im Verborgenen meist unter unhygienischen Bedingungen.
Daraus entsprang die Idee, sichere Injektionsräume wie das Bonner Kontactcafe einzurichten. Auf dem Höhepunkt der Epidemie spielte die Schweiz eine Vorreiterrolle. Danach setzte sich das Konzept zögerlich in ganz Europa durch.
Der Sozialwissenschaftler Henrik Jungaberle sagt, dass Deutschland zwar den Anschein erwecke, an der Spitze einer fortschrittlichen Drogenpolitik zu stehen, tatsächlich aber habe es die meisten seiner Rezepte von den Schweizern abgeschaut. Die Schweiz verfolgt ein vierteiliges Modell mit folgenden Schwerpunkten: Prävention, Therapie, Schadensbegrenzung und Unterdrückung.
Anfang der 1990er Jahre hatte die Schweiz die höchsten HIV-Raten in Westeuropa zu beklagen. Trotz starker Widerstände erlaubte die Stadt Zürich am Platzspitz, einem zentral gelegenen Park, den Drogenkonsum. Sie richtete einen "Toleranzraum" ein. Im sogenannten "Needle Park" ("Nadelpark") konnten Drogenabhängige sich in der Öffentlichkeit mit sauberen Nadeln Heroin spritzen
Drogen in den USA: Jessie und ihre Großtante
Cheryl (71) hat ihre Großnichte Jessie (3) adoptiert. Das Mädchen kam drogensüchtig zur Welt und litt nach der Geburt unter Entzugssymptomen. Von ihrer Mutter fehlt jede Spur. Eline van Nes aus Phoenix, Arizona.
Bild: DW/E. Van Nes
In den Tag starten
Jessie bleibt im Kindersitz des Autos, während Cheryl den Buggie aus dem Kofferraum holt, um mit dem Mädchen ins Einkaufszentrum zu gehen. Oft macht Cheryl das nicht, denn solche Ausflüge kosten die Rentnerin viel Kraft. Sie ist mit dem Kleinkind lieber zu Hause oder geht mit ihm auf den Spielplatz. Oder sie besuchen Jessies Schwester, die bei Verwandten zwei Häuser weiter wohnt.
Bild: DW/E. Van Nes
Luftholen im anstrengenden Alltag
Eine Dreijährige aufzuziehen, ist viel verlangt von einer 71-Jährigen. In den USA müssen immer mehr Großeltern für ihre Enkel sorgen, weil die Eltern drogensüchtig sind, besonders durch Missbrauch von Opioiden, die auch in Schmerzmitteln vorkommen. Studien zufolge leben 12 Prozent aller Kinder im Bundesstaat Arizona bei Verwandten wie Großtante Cheryl, darunter neun Prozent bei ihren Großeltern.
Bild: DW/E. Van Nes
Auf dem Behördenkram sitzenbleiben
Anfang Juli ist in den USA ein Gesetz in Kraft getreten, das Großeltern unterstützen soll, die ihre Enkel großziehen. Dazu gehören zum Beispiel Informationen über Sorgerecht, Sozialleistungen und psychotherapeutische Unterstützung. Doch ein Problem beseitigt es nicht: Angehörige, die ein Kind großziehen, bekommen nicht die selbe finanzielle Unterstützung wie Pflegeeltern.
Bild: DW/E. Van Nes
Ein bisschen Spaß muss lange reichen
Jessie war etwas ängstlich, bevor sie sich das erste Mal aufs Karussell getraut hat. Als Cheryl die Tickets kaufte, erkundigte sich der Mann an der Kasse nach Jessie. "Sie ist meine Tochter", hat Cheryl geantwortet. Sie glaubt, dass die leibliche Mutter des Mädchens noch lebt, aber sie weiß nicht, ob und wo sie einen Entzug macht: "Das letzte Mal wurde sie im vergangenen Herbst gesehen."
Bild: DW/E. Van Nes
Dafür sorgen, dass es weitergeht
Cheryl ist sich bewusst, dass sie wegen ihres Alters vermutlich nicht mehr erlebt, dass Jessie erwachsen wird. Sie hat gesundheitliche Probleme und das Leben mit Jessie erschöpft sie - aber es bringt ihr auch viel Freude. Cheryl glaubt, dass es für das Mädchen wichtig ist, bei der Familie aufzuwachsen statt bei Fremden. Wenn Cheryl stirbt, wird ihr Sohn, Jessies Onkel, für die Kleine sorgen.
Bild: DW/E. Van Nes
Sonntagsfreuden
Sonntags besuchen Cheryl und Jessie eine Kirche der Presbyterianer. Jessie ist zu klein, um am Gottesdienst teilzunehmen, sie geht in den Kindergottesdienst, die Sonntagsschule. Danach treffen sie sich mit anderen Familien im Gemeindesaal. Die Kirche unterstützt Cheryl. Sie hat drei Ehemänner und einen Sohn durch Drogenmissbrauch verloren. Jessie ist ihre letzte Berufung, glaubt Cheryl.
Bild: DW/E. Van Nes
Mama ein bisschen rumschubsen
Cheryl hat dauerhafte Rückenprobleme, Arthritis in den Händen und Ischiasbeschwerden in beiden Beinen. Sie trägt eine Rückenstütze, die die Schmerzen lindern hilft, braucht aber zusätzlich Schmerzmittel und andere Medikamente. Anders geht es nicht - vor allem, wenn ein Kleinkind mit ihr spielen und sie auch mal ein bisschen vor sich hertreiben will.
Bild: DW/E. Van Nes
Happy Birthday!
Jessie hat Geburtstag - sie wird drei Jahre alt. Cheryl hat nur wenige Gäste eingeladen, damit die Feier das Mädchen nicht überfordert. Jessie hat noch zwei leibliche Geschwister: Ihre ältere Schwester lebt bei Cheryls Bruder und seiner Frau. Aber sie konnten nicht zwei Kinder aufnehmen. Jessies kleiner Bruder ist von einer fremden Familie adoptiert worden.
Bild: DW/E. Van Nes
Zur Ruhe kommen
Unmittelbar bevor bei Jessies Mutter die Geburtswehen einsetzten, hatte sie noch mal Methamphetamin genommen. Als Jessie auf die Welt kam, schrie und weinte und zuckte sie - typische Entzugserscheinungen. Seitdem muss Jessie mit jeder Menge Gesundheitsproblemen zurechtkommen. Sie steht immer noch unter ärztlicher Beobachtung, um weitere Schädigungen auszuschließen.
Bild: DW/E. Van Nes
9 Bilder1 | 9
Das führte aber auch dazu, dass Zürich zu einem Anziehungspunkt für Drogenabhängige aus der ganzen Schweiz und sogar aus dem Ausland wurde. Über 1000 Süchtige drängten sich im Höhepunkt der Drogenszene jeden Tag auf dem Platzspitz. Dem setzten Stadtverwaltung und Polizei 1992 ein Ende. Aber die Idee, dass Drogenabhängige sichere und saubere Orte brauchen, blieb im Bewusstsein. So wurden entsprechend geschützte Konsumorte eingerichtet.
Die Schweiz konnte wohl in der "pragmatischen Drogenpräventionspolitik" deshalb führend werden, weil die Regierung des Landes keine weltweite Führungsrolle einnehmen wollte, meint Jungaberle. Pragmatische Drogenpolitik sei jedenfalls etwas, das sich am besten ohne große öffentliche Aufregung umsetzen lasse.
So habe zum Beispiel Deutschland die mittlerweile sichersten Injektionsräume Europas. Aber keine der großen politischen Parteien habe den Drogenkonsum zu einem zentralen politischen Thema in ihren Kampagnen gemacht, sagte Jungaberle. Hätte Bundeskanzlerin Merkel eine drogenkonsumfreundliche Politik formuliert, hätte sich ihre Christdemokratische Partei (CDU) mit Sicherheit dagegen ausgesprochen, sagte er. Stattdessen habe die Bundesregierung unter Merkel die Reformen leise eingeführt und das Thema dadurch entpolitisiert.
Mittlerweile verfolgt der größte Teil Europas eine ähnliche Politik wie die Schweiz. Obwohl Länder wie Portugal schwere Drogenepidemien erlebt haben, die mit der aktuellen Situation in den USA durchaus vergleichbar sind, haben die meisten europäischen Länder versucht, ihr Chaos im Laufe der Jahre zu beseitigen.
Die Gesetzgeber begannen eine radikale Drogenpolitik, die die Konsumenten entkriminalisieren sollte. Zuvor hatten sie eine ganz andere Strategie verfolgt, ähnlich wie derzeit in den USA: Kriminalisierung und Inhaftierung. Mittlerweile liegt die Rate an Drogentoten in Portugal wieder auf dem Niveau des restlichen Europas. Die USA hingegen setzten in ihrer Drogenpolitik auf "Abstinenz", kombiniert mit Strafverfolgung und Inhaftierung von Dealern und Süchtigen.
Paradox dabei: Für Ärzte und Klinikärzte gelten deutlich lockerere Verschreibungsvorschriften für Opioide wie Oxycodon als in Europa. Oxycodon ist sogar das am häufigsten verschriebene Schmerzmittel in den USA. Die aggressiven Vermarktungsmethoden des Herstellers Dow sind derzeit Thema von Gerichtsprozessen.
Vieles von dem, was heute in dunklen Drogenlabors produziert wird, entstammt dem Eifer und Erfindungsreichtum deutscher Wissenschaftler, Militärs und Unternehmen.
Deutscher Drogenangriff
Bei den Feldzügen in Polen 1939 und in Frankreich 1940 schickte Hitler chemisch aufgeputschte Soldaten in den Kampf. Allein beim Frankreich-Feldzug sollen 35 Millionen Pillen von Pervitin an die kämpfende Truppe verabreicht worden sein. Das Mittel - ein Methamphetamin - hatte den den Namen "Panzerschokolade" oder auch "Herman-Göring-Pillen". Allerdings: Auch die Alliierten dopten ihre Soldaten.
Bild: picture-alliance/dpa-Bildarchiv
Wach, furchtlos, keinen Hunger
Das Wundermittel der deutschen Wehrmacht hatte ein Japaner erstmals in flüssiger Form hergestellt. Chemiker der Berliner Temmler-Werke entwickelten es fort und meldeten 1937 ein Patent an - ein Jahr später ging es als Arzneimittel in den Handel. Das Mittel vertrieb Müdigkeit, Hunger, Durst und Angst. Heute wird Pervitin illegal unter einem neuen Namen verkauft: Crystal Meth.
Selbst sein bester Kunde?
Historiker streiten sich, ob auch Adolf Hitler der Pervitinsucht verfallen war. In den Betreuungsakten seines Leibarztes Theo Morell taucht auffallend häufig ein X auf. Für was dieser Eintrag steht, ist bis heute unklar. Als gesichtert gilt, dass Hitler sehr starke Mittel verabreicht bekam - die meisten wohl fernab heutiger Betäubungsmittelvorschriften.
Bild: picture alliance/Mary Evans Picture Library
Wundermittel Heroin
Der Erfindergeist deutscher Drogenköche begann allerdings deutlich früher. "Kein Husten mehr dank Heroin", so lautete Ende des 19. Jahrhunderts der Werbeslogan des heutigen Weltkonzerns Bayer für seinen Verkaufsschlager. Schon bald wird Heroin bei Epilepsie, Asthma, Schizophrenie und Herzerkrankungen verschrieben - auch bei Kindern. Als Nebenwirkung gab Bayer Verstopfung an.
Kreative Chemiker
Felix Hoffmann wird vor allem für die Erfindung von Aspirin gefeiert. Seine zweite bahnbrechende Leistung gelang ihm eher nebenbei, als er mit Essigsäure experimentierte. Anders als bei Aspirin kombinierte der Chemiker die Säure mit Morphin, dem getrocknete Saft von Schlafmohn. Sein Produkt sollte den Deutschen bis 1971 legal erhalten bleiben - erst dann wurde Heroin verboten.
Kokain für Augenärzte
Der Darmstädter Konzern Merck produzierte bereits ab 1862 Kokain im großen Stil als lokales Betäubungsmittel für Augenärzte. Vorausgegangen waren Experimente des Forschers Albert Niemann mit Cocablättern aus Südamerika. Der Chemiker isolierte ein besonderes Alkaloid, das er Kokain nannte. Niemann starb kurz nach seiner Entdeckung - allerdings an einem Lungenproblem.
Bild: Merck Corporate History
"Euphorisch und arbeitsfähig"
Der für die Psychoanalyse bekannte Neurologe Sigmund Freud konsumierte Kokain für wissenschaftliche Zwecke. In seinen "Schriften über Kokain" beschrieb Freud den Stoff als unbedenklich. Man fühle sich "euphorisch, lebenskräftig, arbeitsfähig". Seine Begeisterung ließ nach dem Drogentod eines Freundes nach. Das Mittel wird zu diesem Zeitpunkt auch bei Kopf- und Magenschmerzen verschrieben.
Bild: Hans Casparius/Hulton Archive/Getty Images
Vergessenes Ecstasy-Patent
Der US-Chemiker Alexander Shulgin gilt als Erfinder von Ecstasy als Partydroge. Er ist aber nur der Wiederentdecker. Die ursprüngliche Brauanleitung der bunten Pillen stammt vom Pharmakonzern Merck. 1912 beantragte das Unternehmen das Patent für ein farbloses Öl mit dem Namen 3,4-Methylendioxy-N-methylamphetamin - kurz MDMA. Die Substanz stuften die Chemiker damals als kommerziell wertlos ein.
Bild: picture-alliance/epa/Barbara Walton
Langer Schatten
Der Entdeckerdrang deutscher Chemiker wirkt - unbeabsichtigt - bis heute nach. Die Vereinten Nationen schätzen, dass im Jahr 2013 weltweit knapp 190.000 Menschen durch den Konsum illegaler Drogen starben. Für die legale Droge Alkohol sieht die Bilanz noch schlechter aus: Die WHO schätzt für 2012, dass 5,9 % aller Todesfälle auf Alkoholkonsum zurück geführt werden können, rund 3,3 Millionen.