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PolitikEuropa

Minus 55! Die EU hat ein neues Klimaziel

10. Dezember 2020

Nach langem Ringen steht das Klimaziel der EU: 55 Prozent weniger Emissionen. Der Kompromiss musste Polen abgekauft werden. Zuvor war beim EU-Gipfel eine Einigung auf den Haushalt gelungen. Bernd Riegert aus Brüssel.

BdTD Belgien Heißluftballon in Brüssel
Ein Heißluftballon für den EU-Gipfel: Für Klimaschützer sind die jetzigen Vereinbarungen zu niedrig Bild: Francisco Seco/AP Photo/picture alliance

Die ganze Nacht, mehr als acht Stunden, verhandelten die EU-Staats- und Regierungschefs über ein verschärftes Klimaziel. Um kurz nach acht Uhr am Freitag konnte Ratspräsident Charles Michel per Twitter endlich Erfolg melden. "Wir haben uns auf eine Kürzung unserer Treibhausgas-Emissionen auf mindestes 55 Prozent bis 2030 festgelegt. Europa führt den Kampf gegen die Klimawandel an." Die Einigung war so mühsam, weil wie schon beim Haushaltsstreit zuvor das Mitgliedsland Polen sich quer stellte.

Die Festlegung auf 55 Prozent bis zum Jahr 2030 bedeutet, dass die 27 Mitgliedsstaaten zusammen 55 Prozent ihres Kohlendioxidausstosses im Vergleich zum Jahr 1990 einsparen sollen. Bislang lag dieses Ziel bei 40 Prozent. Weil die Klimaziele des UN-Klimavertrages von Paris, nämlich eine Begrenzung der Erderwärmung deutlich unter zwei Grad, nicht erreicht werden kann, war diese Anpassung nötig. Umweltverbände und Klimaaktivisten sagen aber, dass 55 Prozent zu niedrig seien und es eher 65 Prozent sein müssten.

Mehr Geld für Kohle-Länder

Polen und andere Länder, die von fossilen Energieträgern sehr abhängig sind, forderten mehr Ausgleichszahlungen aus dem EU-Haushalt. Zugesichert wird, dass die "unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und kulturellen Eigenheiten" der Staaten bei der Energiewende berücksichtigt werden. Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki feilschte lange und zäh, um mehr Zusagen für sein Land und den Umbau der polnischen Kohlereviere. Das Geld kommt aus dem EU-Haushalt, der Stunden zuvor am Donnerstag auf dem EU-Gipfel durch einen Kompromiss mit Polen und Ungarn in der Frage der Rechtsstaatlichkeit erst möglich wurde.

Insgesamt schätzt die EU-Kommission seien in den nächsten Jahren 350 Milliarden Euro an Investitionen nötig, um erneuerbare Energien und Energieeinsparung zu fördern. Tschechien setzt zum Bespiel weiter auf Kernenergie und möchte seine Atomkraftwerke von der EU mitfinanzieren lassen. Erst im kommenden Jahr will die EU-Kommission einen Plan vorlegen, welcher Mitgliedsstaat welchen Anteil zum neuen 55 Prozent-Ziel beitragen muss und wer welche Fördermittel erhält. Der französische Präsident Emmanuel Macron, der sich als Hüter der Klimaziele der Pariser UN-Konferenz von 2015 sieht, kann zufrieden sein. "Das wird von Europa erwartet", hatte er vor der langen Verhandlungsnacht gesagt. 

Durchbruch zum Riesen-Haushalt

Nachdem Ungarn und Polen ihr Veto am Donnerstagabend beim EU-Gipfel gegen den EU-Haushalt und die damit verbundene Rechtsstaats-Regel zurückgezogen haben, schrieb die regierungstreue ungarische Zeitung "Magyar Nemzet": "Wir haben gesiegt."

Das sehen viele Teilnehmer des EU-Gipfels in Brüssel und Abgeordnete des Europäischen Parlaments ganz anders. Der Chef der größten Fraktion im Parlament, der deutsche CSU-Politiker Manfred Weber, meinte, der Text und die Wirksamkeit der Rechtsstaatlichkeit-Überprüfung seien nicht verändert worden.

Die zusätzliche Erklärung, die die Staats- und Regierungschefs der EU der ungarischen und polnischen Regierung zugestanden haben, sei, so Weber, "legal nicht bindend". Deshalb werde das Europäische Parlament wohl auch keine Probleme haben, dem Rechtsstaatsmechanismus und dem gesamten Haushalt abschließend zuzustimmen. Der Wirkungsbereich der Rechtsstaatsklauseln werde entgegen polnischer und ungarischer Wünsche nicht allein auf die Haushaltsabwicklung beschränkt, berichten belgische EU-Diplomaten aus der Gipfelsitzung.

Aufgeschoben, nicht aufgehoben

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban und sein polnischer Amtskollege Mateusz Morawiecki gehen davon aus, dass sie die mögliche Überprüfung der rechtsstaatlichen Ordnung in ihren Ländern vor der Auszahlung von EU-Mitteln weiter verzögern können. Sie ließen sich zusichern, dass zunächst der Europäische Gerichtshof ein Urteil sprechen muss, bevor der Mechanismus angewendet werden kann.

Das kann viele Monate, wenn nicht Jahre dauern. Morawiecki geht davon aus, dass er "willkürliche politische Entscheidungen" der EU gegen sein Land so abwenden konnte. "Wir hatten das Gefühl, wir könnten angegriffen werden in der Zukunft", sagte der polnische Premier in Brüssel. Er hatte der EU unter anderem vorgeworfen, sie wolle sich in polnische Familienpolitik und die umstrittene Abtreibungsgesetzgebung einmischen. Viktor Orban sagte bei einer Pressekonferenz am Abend, er gratuliere sich selbst zu diesem Erfolg. Orban widersprach der Auslegung durch EU-Abgeordnete, dass die nun gefundene Regelung nicht nur bei konkreten finanziellen Unregelmäßigkeiten, sondern auch bei generellen Rechtsstaatsverstößen angewendet werden kann. 

Maskenmänner im Widerstand: Polens Premier Morawiecki (Mi.) und Ungarns Premier Orban (re.) in BrüsselBild: Olivier Matthys/Pool/REUTERS

Merkel fädelt Kompromiss ein

Bundeskanzlerin Angela Merkel war zufrieden, dass der lästige Streit mit Polen und Ungarn, denen seit Jahren eine Aushöhlung ihres Rechtsstaates vorgeworfen wird, in letzter Minute beigelegt werden konnte. Der Weg für den größten EU-Haushalt der Geschichte ist damit frei.

Merkel hatte den Kompromiss mit Ungarn und Polen eingefädelt. Die Bewahrung der Einstimmigkeit beim Haushalt ist für sie "ein wichtiges Zeichen für die Handlungsfähigkeit der EU". Mitten in der Pandemie wäre es auch unverständlich gewesen, warum ausgerechnet der Corona-Wiederaufbaufonds in Höhe von 750 Milliarden Euro nicht zustande gekommen wäre.

Das Budget wird zusätzlich zu den 1,1 Billionen Euro regulären Haushaltsmitteln in den nächsten sieben Jahren von der EU aufgebracht. Der Fonds wird erstmals mit gemeinschaftlichen Schulden der EU finanziert, was vor der Pandemie noch undenkbar gewesen wäre. Angesichts der gewaltigen Wirtschaftskrise hatte Angela Merkel im April 2020 eine Kehrtwende hingelegt und gemeinsame Schulden erstmals akzeptiert.

Alte Verfahren könnten auslaufen

Der jetzt beschlossene Rechtsstaatsmechanismus sieht vor, dass Empfängern von EU-Mitteln - Polen und Ungarn waren in den letzten Jahren die größten - Geld gestrichen werden kann, wenn die EU-Kommission feststellt, dass der Rechtsstaat in Gefahr ist und eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedsstaaten zustimmt.

Die bislang gegen Polen und Ungarn laufenden Verfahren nach Artikel 7 der Lissabonner EU-Grundlagenverträge waren ins Leere gelaufen. Die Mitgliedsstaaten könnten den beiden Ländern ihre Stimmrechte in der EU entziehen. Doch dazu sind eine Reihe von Abstimmungen nötig, die teilweise Einstimmigkeit erfordern. Dazu fehlte bisher der politische Wille unter den Mitgliedsstaaten.

Nach Einschätzung von EU-Diplomaten gibt es wohl eine Art Absprache mit Ungarn und Polen, dass die Artikel-Verfahren auslaufen sollen und man sich stattdessen auf das neue Rechtsstaatsinstrument im Haushalt konzentriert. Außerdem muss die EU-Kommission entscheiden, ob sie Polen erneut von dem Europäischen Gerichtshof verklagt, weil Warschau sich weigert, ein bereits rechtskräftiges Urteil zur Unabhängigkeit seiner Richter umzusetzen. Hier könnte eine empfindliche Geldstrafe drohen.

Klima, Türkei und viele andere Themen stehen noch auf der Tagesordnung beim physischen Treffen in Brüssel Bild: Johanna Geron/dpa/picture-alliance

Geldspritze gegen Flaute

Die Mittel aus dem Corona-Fonds, davon 311 Milliarden Euro als Zuschüsse, sollen in den nächsten zwei Jahren so schnell wie möglich ausgezahlt werden, um die europäische Wirtschaft nach Corona wieder flott zu machen. Größter Nutznießer des Fonds werden Italien, Spanien und andere Staaten sein, die besonders heftig von der ersten Corona-Welle getroffen worden waren. Polen und Ungarn profitieren ebenfalls kräftig.

Parallel zum Haushaltsbeschluss der EU hat die Europäische Zentralbank am Donnerstag noch einmal ihre Geldspritzen massiv erhöht. Mit nie dagewesenen Anleihekäufen im Wert von 1,8 Billionen Euro will die EZB für eine billige Refinanzierung von Staaten und Unternehmen sorgen.

Der ehemalige Chef des deutschen Ifo-Wirtschaftsforschungsinstitut, Hans-Werner Sinn, warnt, dass die Schulden, die die EU jetzt aufnimmt, und die lockere Geldpolitik in den nächsten Jahren zu massiven Problemen führen können. "Langfristig bestehen erhebliche Gefahren", sagte Sinn der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Es drohten Geldentwertung und eine Liquiditätsfalle, die normale Geldpolitik unmöglich mache.

Nur milde Sanktionen für die Türkei

Für die Türkei hatte der EU-Gipfel in der Nacht zum Freitag eine doppeldeutige Botschaft parat. Auf der einen Seite will die EU die "Kommunikationskanäle" nach Ankara offen halten und hat weiter ein "strategisches Interesse" an guten Beziehungen zur Türkei, die formal immer noch Beitrittskandidat zur EU ist. Auf der anderen Seite verurteilt die EU erneut die als illegal betrachteten Aktivitäten türkischer Forschungsschiffe, die in zyprischen und griechischen Hoheitsgewässern nach Gas suchen.

Auch der Besuch des türkischen Präsidenten Erdogan in der zyprischen Siedlung Varosha wird als üble Provokation verurteilt. Varosha wurde 1974 wie das übrige Nordzypern von der Türkei besetzt. Seither ist die Geisterstadt Varosha ein Art Symbol für die Vertreibung der damaligen griechisch-zyprischen Bewohner. Als Konsequenz aus dem türkischen Verhalten will die EU jetzt Sanktionen gegen einige Einzelpersonen und Unternehmen ausweiten.

Griechenland und Zypern hatten wesentlich schärfere Maßnahmen gefordert. Von einem Waffenembargo oder generellen Sanktionen gegen den Staat und NATO-Verbündeten Türkei will die EU aber noch nichts wissen. 

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union
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