EU diskutiert über "grüne" Schulden
11. September 2021Am zweiten Tag ihrer informellen Beratungen im slowenischen Brdo haben sich die sechs Finanzministerinnen und 21 Finanzminister der EU-Mitgliedsstaaten über Ideen zur Reform der Finanz- und Schuldenregeln in der EU ausgetauscht. Entscheidungen gab es keine. "Das hat auch noch niemand erwartet", meint dazu ein EU-Diplomat in Brdo. Zwar ist eine Debatte über die zukünftigen Regeln für die Fiskalpolitik in der EU eröffnet, Ergebnisse, wie und ob Verschuldungsobergrenzen verschoben oder neu ausgelegt werden können, seien aber erst in einiger Zeit zu erwarten, meinte der Finanzminister von Österreich Gernot Blümel. Zunächst wollen sich die Ressortchefs anhören, was Fachleute zum Stabilitäts- und Wachstumspakt der EU sagen. Guntram Wolff, Direktor des renommierten wirtschaftspolitischen Think Tanks "Bruegel" in Brüssel, trug in Brdo die Empfehlungen seiner Experten vor. Fazit: Staatliche Investitionen in zukunftsträchtige Sektoren wie den Klimaschutz, Energiewende oder digitale Infrastruktur sollten bei der Berechnung der Staatsschulden milder bewertet werden oder gar ganz aus der Kalkulation herausgenommen werden. Sie würden also nicht mehr in die geltende jährliche Neuverschuldungsquote von drei Prozent im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung aufgenommen.
Frankreich wirbt für Atomenergie
Der französische Finanzminister Bruno Le Maire und seine spanische Kollegin Nadia Maria Calvino Santamaria finden diese nicht ganz neue Idee faszinierend. "Grüne" Investitionen, die zum Wirtschaften ohne Kohlendioxid bis 2050 führten, müssten besonders behandelt werden, fordert Bruno Le Maire im Gegensatz zu seinem deutschem Kollegen, Olaf Scholz. Aus der deutschen Delegation hieß es, es sei sehr schwer auszumachen, was genau "grüne" Investitionen seien, wo die Grenzen für diese Verschuldung liegen sollte. Frankreichs oberster Kassenwart hat diesbezüglich sehr weit reichende Vorstellungen. Atomenergie sollte zum Beispiel per se als klimafreundlich und deshalb als förderungswürdig angesehen werden. "Entweder bekämpfen wir den Klimawandel mit ideologischen Scheuklappen und scheitern oder wir bekämpfen den Klimawandel mit einem wissenschaftlichen Ansatz und sind erfolgreich. Man muss den zusätzlichen Nutzen der Kernenergie anerkennen", sagte der Franzose Le Maire, dessen Land seinen Strom zu 71 Prozent aus emmissionsfreier Kernenergie gewinnt.
Skeptisch bei Ausnahmen
Andere EU-Staaten wie Deutschland steigen aber gerade aus der aus ihrer Sicht unsicheren Atomenergie aus. Sie würden sich dagegen wehren, ausgerechnet Investitionen in Kernreaktoren und deren Export künftig von den Staatsschulden abzuziehen. Der Finanzminister von Österreich, Gernot Blümel, versteht sich als inoffzieller Sprecher der "frugalen", also eher sparsamen Staaten in der EU. Er sieht das Herausrechnen von grünen Investitionen aus der Neuverschuldung sehr skeptisch. "Ausnahmen führen immer zu Ausflüchten und politischen Ausreden", meinte Blümel. Hoch verschuldete Staaten wie Italien oder Griechenland könnten veränderte Regeln nutzen, um ihre neuen Schulden "grün" zu waschen oder umzudeklarieren.
Die Präsidentin der Europäischen Zentralbank Christine Lagarde, die an der Finanzministerrunde in Brdo teilnahm, sieht das allerdings lockerer. "Man muss sich immer sehr genau ansehen, wozu Schulden aufgenommen werden." Der EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni sprach sich erneut dagegen aus, die "Fehler" nach der Finanzkrise vor zehn Jahren zu wiederholen. Damals hätten die Staaten, um sich nicht weiter zu verschulden, ihre Investitionen nach und nach auf Null zurückgefahren. Das sei schädlich für die Konjunktur und dürfe sich nicht wiederholen nach der Corona-Rezession, forderte Gentiloni.
Zeitgemäße Grenzen?
Die Diskussion um die Schuldenregeln und eine fiskalisch gesunde Euro-Währungsgemeinschaft wird, so viele Minister, dürfte noch einige Zeit dauern. Eine formelle Änderung der EU-Verträge, die eine Verschuldungsgrenze von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung und die drei Prozent Neuverschuldung vorsehen, wird es aber wohl nicht geben. Dazu wäre Einstimmigkeit und die kaum zu erreichende Ratifizierung in allen Mitgliedsstaaten notwendig. In der auslaufenden Corona-Pandemie hatten sich alle EU-Staaten kräftig verschuldet, um ihre Wirtschaft zu stützen. Die Verschuldung liegt im Durchschnitt derzeit bei 100 Prozent statt der vorgesehenen 60 Prozent. Wie diese in den nächsten Jahren zurückgeführt werden soll, wird derzeit von den Finanzministern auch heftig diskutiert. Es gibt Experten wie den deutschen Ökonomen Peter Bofinger, die meinen, man sollte die 60 Prozent-Grenze anheben. Denn die Zahl sei bei Einführung der Gemeinschaftswährung Euro 1999 willkürlich gesetzt worden, weil damals die durchschnittliche Verschuldung der EU-Staaten eben bei 60 Prozent lag.
Bankenregulierung durch Basel III verzögert sich
Nicht so recht vom Fleck kommen auch andere Reformvorhaben der EU. Die Einführung strengerer Eigenkapital-Regeln für europäische Banken wurden wegen der Corona-Krise um ein Jahr auf 2023 verschoben. Die EU-Kommission muss dazu neue Verordnungen und Richtlinien vorlegen, was sie bislang verzögert. In einem offenen Brief hatten etliche Notenbank-Präsidenten und Bankenaufsichtsbehörden der EU die Finanzminister und die EU-Kommission aufgefordert die "Basel III" genannten Vorschriften nicht zu verwässern und zügiger einzuführen. Die nach dem Sitz einer Bankeninstitution im schweizerischen Basel benannten Vorschläge wurden 2010 nach der Finanzkrise veröffentlicht. Sie haben seit 2014 in der EU-Gesetzeskraft. Bis 2019 sollten sie komplett umgesetzt sein. Inzwischen wurden sie noch einmal nachgeschärft – manche nennen sie deshalb Basel IV – und sollen in fünf Jahren in allen Banken gelten. Die Lobbyverbände der Banken warnen seit langem vor zu scharfen Vorschriften beim Eigenkapital und zu viel Regulierung, weil das den Wettbewerb mit amerikanischen Banken erschweren würde.
Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) schloss eine "Rolle rückwärts" bei der Regulierung und Aufsicht für Banken aus. "Sie sind ein wichtiger Beitrag dazu, dass wir ein stabiles Finanzsystem haben", sagte Scholz, dessen Partei in zwei Wochen die Bundestagswahl gewinnen könnte. Er äußerte sich bereits vor dem Finanzministertreffen bei einem "Bankengipfel", der von der Zeitung "Handelsblatt" am Donnerstag veranstaltet wurde.