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PolitikEuropa

EU gibt Wettbewerbsfähigkeit Vorrang vor Klimaschutz

28. Juni 2024

Neben den Personalfragen hat der EU-Gipfel ein Arbeitsprogramm für fünf Jahre gebilligt: Es geht vor allem um die Wirtschaft. Der Klimaschutz soll sich der Wettbewerbsfähigkeit unterordnen. Bernd Riegert aus Brüssel.

EU-Ratspräsident Charles Michel gestikuliert vor etlichen Mikrofonen
EU-Ratspräsident Charles Michel beim Gipfeltreffen in Brüssel: EU muss wettbewerbsfähiger werdenBild: Omar Havana/AP/dpa/picture alliance

Der EU-Gipfel dauerte nur einen statt der angesetzten zwei Tage. Spät in der Nacht zu Freitag stieg sozusagen weißer Rauch über dem Europa-Gebäude in Brüssel auf, wo sich die 27 Staats- und Regierungschefs und -chefinnen trafen. Das Personalpaket konnte mit der erforderlichen Mehrheit verabschiedet werden. Die deutsche EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen soll weitere fünf Jahre im Amt bleiben. Die estnische Premierministerin Kaja Kallas wird neue Außenbeauftragte und der ehemalige portugiesische Regierungschef Antonio Costa übernimmt den eher repräsentativen Vorsitz des Europäischen Rates, also der Gipfelrunde der Staats- und Regierungschefs.

Führungsteam für die nächsten Jahre: Kommissionspräsidentin von der Leyen, Ratschef Costa, Außenbeauftragte Kallas (v.l.n.re.)Bild: Zhao Dingzhe/Xinhua/IMAGO/Sean Gallup/Getty Images/LUDOVIC MARIN/AFP via Getty Images

Italien fühlt sich übergangen

Die Diskussion über die Personalien war kürzer als erwartet, obwohl sich die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban, beide politisch weit rechts außen, vehement ablehnend äußerten. Meloni, die auf den Zuwachs an rechtsnationalen Abgeordneten bei der Europawahl vor drei Wochen verwies, fühlte sich übergangen und nannte die Mehrheit aus Christdemokraten, Sozialisten und Liberalen im Europäischen Rat "surreal". Die Methode sei falsch und das Ergebnis schlecht, zürnte sie auf X. 

Man könne Italien nicht einfach übergehen. Meloni enthielt sich am Ende der Stimme. Viktor Orban bemängelte die erste Amtszeit von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen als die "schlechteste Zeit", die die EU je erlebt habe. Für die erforderliche Mehrheit von 20 Ländern und 65 Prozent der Bevölkerung wurden weder Italien noch Ungarn gebraucht. Giorgia Meloni, die sich als Königsmacherin sah, habe sich verschätzt, meinten EU-Diplomaten nach dem Gipfel. Sie habe die politische Dynamik ein wenig falsch eingeschätzt.

Zwei Rechtsaußen sind unzufrieden: Italiens Premier Meloni (li.), Ungarns Premier Orban (Mi.)Bild: Johanna Geron/REUTERS

Das EU-Parlament ist am Zuge

Als letzten Schritt für eine zweite Amtszeit braucht Ursula von der Leyen die absolute Mehrheit von 361 Stimmen im Europäischen Parlament, das in der dritten Juli-Woche zu seiner konstituierenden Sitzung in Straßburg zusammentritt. Sie könnte auf Stimmen von den Grünen oder von Rechtsnationalen angewiesen sein. Von der Leyen kündigte an, nun auf Abgeordnete außerhalb der informellen Koalition der Mitte aus Christdemokraten, Sozialisten und Liberalen zuzugehen. Bei der Abstimmung im Parlament könnten die von der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni gesteuerten Abgeordneten ihrer Partei "Fratelli d'Italia" also doch noch eine Rolle spielen.

Strategie setzt auf Vorrang für Wettbewerbsfähigkeit

Länger als über die Personalien haben die 27 Staats- und Regierungschefs über das Regierungsprogramm für die nächste EU-Kommission und die nächste Legislaturperiode beraten. Das als "strategische Agenda" benannte acht Seiten umfassende Papier skizziert die politischen Ziele der EU und setzt Ursula von der Leyen, sollte sie im Parlament bestätigt werden, einen konkreten Handlungsrahmen. Das längste Kapitel der Agenda befasst sich mit der Wiederherstellung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit Europas. Entwicklung, Produktion und Wertschöpfung von Spitzentechnologie soll künftig mehr in der EU stattfinden. Von Importen aus China, anderen asiatischen Staaten und den USA will man unabhängiger werden.

"Wir werden die Lücken bei Wachstum, Produktivität und Innovation zwischen uns und unseren internationalen Partnern und Konkurrenten schließen. Das erfordert große gemeinsame Anstrengungen bei Investitionen, der Mobilisierung von öffentlichen und privaten Mitteln", heißt es in dem Gipfel-Beschluss. Besonders viel ist dabei in der größten Volkswirtschaft der EU, in Deutschland, zu tun. Die EU-Kommission bemängelt schleppende Investitionen und mangelnde Dynamik in Deutschland in ihrer aktuellen Bestandsaufnahme.

Halbleiter-Produktion als Prüfstein für Industriepolitik: Die EU will Lieferketten wieder in Europa ansiedelnBild: JOSEP LAGO/AFP via Getty Images

Der "Green Deal" wird abgespeckt

Von einer ambitionierten Klimaschutzpolitik ist in dem Papier nicht mehr die Rede, anders noch als 2019 zu Beginn der ersten von der Leyen-Kommission. Damals nahm die Klimapolitik einen breiteren Raum ein. Jetzt sollen Klimapolitik und Industriepolitik versöhnt werden. "Auf unserem Weg zur Klimaneutralität im Jahr 2050 werden wir pragmatisch vorgehen", beschlossen die Staats- und Regierungschefs und -chefinnen in der Nacht. Klimapolitik, der sogenannte Green Deal, sei kein Selbstzweck, sondern soll die Wettbewerbsfähigkeit und die Energie-Souveränität Europas im weltweiten Maßstab stärken.

Der grüne Europa-Abgeordnete Michael Bloss kritisierte diesen Ansatz: "Die Staats- und Regierungschefs tun mit ihrer strategischen Agenda so, als wäre der Green Deal eine Nebensächlichkeit, er ist ihnen lediglich einen Unterabsatz wert. Hier muss die designierte Kommissionspräsidentin klarer sein. Der Green Deal ist das zentrale Projekt, um die Wirtschaft wettbewerbs- und zukunftsfähig aufzustellen und die Klimaziele zu erreichen. Der Green Deal muss weitergehen." Der klimapolitische Sprecher der Grünen wies daraufhin, dass Ursula von der Leyen auf die Stimmen der Grünen bei ihrer geplanten Wiederwahl im Europäischen Parlament angewiesen sein könnte.

Klimaschutz ja, aber Windräder und mehr sollen in der EU hergestellt werdenBild: Patrick Pleul/dpa/picture alliance

Erweiterung wird strategisches Ziel

Der scheidende EU-Ratspräsident Charles Michel sagte, die EU müsse sich nach dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, der zunehmend unsicheren geopolitischen Lage mit Blick auf China und eine mögliche Präsidentschaft von Donald Trump in den USA, mehr auf ihre Sicherheit und Verteidigung konzentrieren. Dazu gehöre auch die Erweiterung der Union um die sechs Westbalkan-Staaten sowie die Ukraine und Moldau. "Wir müssen den Erweiterungsprozess und unsere Aufnahmefähigkeit prüfen. (…) Daher müssen wir Überlegungen dazu anstellen, wie sich eine Erweiterung auf die verschiedenen Politikbereiche der EU und ihre Finanzierung sowie auf unsere Beschlussfassungsmethoden auswirkt", sagte Charles Michel. Mit anderen Worten, Reformen sind nötig, die schon seit Jahren unter anderem vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron gefordert werden.

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban, der am Montag die rotierende Ratspräsidentschaft der EU übernehmen wird, ist mit dem Schwerpunkt auf Wettbewerbsfähigkeit für die EU-Agenda zufrieden. Er will dabei aber auch mit Russland und China zusammenarbeiten. Den Krieg gegen die Ukraine und andere strittige Themen wie Migration, Verteidigung oder Rechtsstaatlichkeit will der rechtsnationale Orban lieber ausklammern. Rechtsstaatlichkeit, Schutz der Demokratie und die Einhaltung der europäischen Grundwerten sind allerdings auch ein zentraler Bestandteil der strategischen Agenda der EU. "Wir werden den Respekt für den Rechtsstaat sichern und ausbauen, weil er die Basis für europäische Kooperation ist", heißt es in dem Text. Die EU wirft Ungarn seit Jahren vor, gerade diesen Respekt vermissen zu lassen.

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union
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