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PolitikEuropa

EU-Gipfel vertagt Entscheidungen

16. Oktober 2020

Die EU schiebt viele Beschlüsse vor sich her. Die Corona-Krise überlagert alles. Gegen die Pandemie sollen häufigere Treffen auf höchster Ebene helfen. Vielleicht jede Woche ein Gipfel? Von Bernd Riegert, Brüssel.

Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs | Angela Merkel
Nur mit Maske im Gipfelgebäude unterwegs: Bundeskanzlerin Angela Merkel in BrüsselBild: Olivier Hoslet/EPA Pool/dpa/picture-alliance

Die finnische Premierministerin Sanna Marin bekam wegen der steigenden Corona-Fallzahlen in Brüssel kalte Füße. Sie verließ das Gipfeltreffen der EU in der belgischen Hauptstadt vorzeitig und ließ sich von ihrem schwedischen Kollegen vertreten.

Marin hatte bereits am Donnerstag kritisiert, dass persönliche Gipfeltreffen angesichts der Pandemielage in Europa ein überflüssiger Luxus seien. Da bei diesem Treffen keine wirklichen Entscheidungen getroffen wurden, hätte man das Ganze auch bequem und sicher als Videokonferenz abwickeln können, hieß es aus der finnischen und dänischen Delegation.

Der Vorsitzende der Gipfelrunde, Charles Michel, hatte aber darauf bestanden, dass sich die 27 Regierungschefs- und chefinnen persönlich treffen müssten, um das sensible Brexit-Thema zu diskutieren. Schaut man sich die schriftlich fixierten Ergebnisse des Gipfels, die sogenannten "Schlussfolgerungen" an, könnte man Sanna Marins Haltung zuneigen.

Überflüssiges Risiko: Finnlands Regierungschefin verließ den Gipfel vorzeitigBild: Olivier Matthys/AP/picture alliance

Beschlüsse zum Klimaschutz, zum Verhältnis zur Türkei und zu einer neuen Afrika-Strategie sind auf den nächsten regulären Gipfel im Dezember vertagt. Zu den Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich über ein Handels- und Partnerschaftsabkommen nach dem Brexit gibt es keine neuen Erkenntnisse, außer dass trotz britischer Ultimaten weiter gesprochen werden soll.

Jede Woche ein Arbeitskreis

Mehr Koordination bei der Corona-Bekämpfung wurde diskutiert. Konkrete Beschlüsse, mit welchen Maßnahmen, Quarantänevorschriften oder Reiseregelungen die Lage verbessert werden könnte, sind aber nicht gefallen. Bundeskanzlerin Angela Merkel, die derzeit den Ratsvorsitz in der EU innehat, gab lediglich zu verstehen, dass man sich öfter treffen will, dann allerdings via sicherer Schaltkonferenz. Sie würde sich über einen stärkeren Austausch freuen, sagte Angela Merkel.

"Das ist eine Herausforderung für alle Regierungschefs der Europäischen Union. Wir haben deshalb vereinbart, uns regelmäßiger auch über Videokonferenzen auszutauschen. Die Frage, wie wir aus dieser Pandemie herauskommen, die entscheidet über die Gesundheit von ganz vielen Menschen. Sie entscheidet, wie viele Menschen müssen sterben, und sie entscheidet auch über unsere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit." 

Der irische Premierminister Michael Martin kündigte an, man wolle sich jetzt "praktisch wöchentlich" zusammenschalten. Einig waren sich die EU-Granden, dass Geschäfte, Betriebe und Schulen in der zweiten Welle weiter arbeiten sollen und an anderer Stelle "Kontakte drastisch eingeschränkt werden müssen", so Kanzlerin Merkel. Die Staats- und Regierungschefs begrüßten die Strategie der EU-Kommission, Impfstoffe für alle EU-Staaten zu kaufen und einen Plan zur gerechten Verteilung zu entwickeln.

Trotz eines Beschlusses der EU vom Dienstag, eine "Corona-Ampel" für die Kennzeichnung von neuen Risikogebieten anzuwenden, weisen die Mitgliedsstaaten nach wie vor solche Risikogebiete nach eigenen Regeln aus. Auch das Robert-Koch-Institut, die oberste Seuchenbehörde der Bundesrepublik, wendet die Grenzwerte der EU noch nicht an. 

Angela Merkel zog Konsequenzen aus der Kritik der finnischen Ministerpräsidentin Marin. Den für November in Berlin geplanten persönlichen EU-Gipfel zu China sagte sie ab. Die Infektionszahlen seien fast überall in Europa "dramatisch", so Merkel.

Schuldenerlass statt Stundung?

Ohne Pandemie hätte bei diesem Oktober-Gipfel die neue Afrika-Strategie verabschiedet werden sollen, die die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen entwickelt hat. 2020 hätte das "Afrika-Jahr" der EU werden sollen. Das soll jetzt 2021 nachgeholt werden, kündigte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell diese Woche in Brüssel an.

Ein geplanter Gipfel mit allen afrikanischen Staaten kann wegen Corona nicht stattfinden. Der Vorsitzende des EU-Gipfels, Charles Michel, versprach für Dezember einen kleinen Ersatz. Die EU will wenigstens mit den Spitzen der Afrikanischen Union (AU) über ihre neue Strategie sprechen.

"Da werden wir die Gelegenheit haben, unsere Partnerschaft, ja auch unsere Allianz mit Afrika zu erneuern. Diese Allianz ist ganz natürlich aus geografischen, historischen und kulturellen Gründen. Es gibt da ein großes Potenzial, wenn wir zusammen mit den afrikanischen Führern die richtigen Entscheidungen treffen", sagte Charles Michel in Brüssel.

Wandbild in Nairobi wirbt für Corona-HygieneBild: Getty Images/AFP/S. Maina

In ihrem Strategiepapier für Afrika hat sich die EU vorgenommen, wirtschaftliche Partnerschaften mit afrikanischen Staaten vor allem in digitalen Branchen oder bei der Erzeugung von erneuerbarer Energie einzugehen. Auf die sehr unterschiedlichen Bedürfnisse der 54 Staaten auf dem Kontinent soll mehr Rücksicht genommen werden.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell, der vor einigen Tagen die Afrikanische Union in Addis Abeba besucht hatte, sagte bei einer Veranstaltung der Sozialisten im Europaparlament, er sei besorgt über die Folgen der Pandemie in Afrika. In Afrika würden die wirtschaftlichen Schäden weitaus größer sein als die gesundheitlichen  Probleme, die durch Covid-Erkrankungen entstünden.

Deshalb sei es jetzt an der Zeit, über Schuldenerlass und nicht nur über Stundung von Schulden zu sprechen. "Wir müssen weitergehen und das beschließen. Das erfordert internationale Anstrengungen. Und das schließt China mit ein", sagte Borrell.

"Afrika verliert klügste Köpfe"

Die EU will mit Afrika auch über ein besseres Management bei der Migration reden. Viele Migranten aus Afrika versuchen  weiterhin die EU zu erreichen. Trotzdem sollte man Afrika nicht auf die Migrationsfrage reduzieren, mahnte EU-Außenpolitikchef Josep Borrell. "Migration ist vor allem ein dynamisches innerafrikanisches Problem, und wir müssen den Ländern vor Ort helfen," so Borell.

EU-Außenbeauftragter Borrell zu Gast bei Äthiopiens Premier Amed (im Februar)Bild: picture-alliance/dpa/European Commission/Eduardo Soteras

Der Friedensnobelpreisträger Denis Mukwege, Klinikleiter und Menschenrechtsaktivist aus dem Kongo, war in dieser Woche ebenfalls in Brüssel zu Gast, um über europäisch-afrikanische Zusammenarbeit zu sprechen. Er warnte davor, dass Afrika seine klügsten Köpfe durch Migration nach Europa verliere.

Dort stärke unerwünschte Einwanderung nur die politischen Extremisten. "Eine breitere Zusammenarbeit der der Entwicklungen zwischen der EU und Afrika bei der Migration, beim Klimaschutz und bei Frieden und Sicherheit sind noble Ziele. Ich glaube, dass größte Problem ist, dass  es bei der Umsetzung hapert. Es ist die Umsetzung, die nicht klappt", sagte Denis Mukwege in einem Interview mit dem Fernsehsender "Euronews".

Das Klimaschutz-Ziel der EU für das Jahr 2030, das nach Auffassung von Umweltaktivisten dringend festgelegt werden müsste, wurde vom EU-Gipfel auf Wiedervorlage gelegt. Im Dezember sollen die Mitgliedsstaaten entscheiden, ob in zehn Jahren 50, 55 oder gar 60 Prozent des Kohlendioxidausstoßes eingespart werden sollen.

Deutschland spricht sich für 55 Prozent aus. Einige Mitgliedsstaaten wie Polen oder Bulgarien, die viel Kohle verfeuern, bremsen. Das Europäische Parlament fordert 60 Prozent. Umweltverbände sogar noch mehr. Lange Verhandlungen zwischen den EU-Institutionen sind vorprogrammiert.

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union