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PolitikEuropa

EU-Gipfel berät Pandemie-Regeln

15. Oktober 2020

Steigende Infektionszahlen in ganz Europa sorgen für Diskussionen in Brüssel: Wie kann ein Lockdown mit schweren Auswirkungen auf die Wirtschaft verhindert werden? Und auch das leidige Thema Brexit ist weiter ungelöst.

Symbolbild EU Corona
Bild: Yves Herman/Reuters

"Wir treffen uns in einem schwierigen Umfeld, weil die COVID-Infektionen steigen (...) und das Verhältnis zum Vereinigten Königreich auf der Tagesordnung steht." Mit diesen wenig optimistischen Worten beginnt der Vorsitzende des EU-Gipfeltreffens Charles Michel sein Einladungsschreiben an die 27 Staats- und Regierungschefs, die sich am Donnerstag und Freitag in Brüssel persönlich treffen werden. Die Pandemie und der sich zäh hinziehende Streit um ein Abkommen mit dem aus der EU ausgeschiedenen Großbritannien werden die Diskussionen prägen. Patentlösungen wird es für beide Probleme aus Brüssel nicht geben.

Bei der Bekämpfung der Seuche, die in Europa zur zweiten Welle angesetzt hat, setzt jedes Mitgliedsland auf unterschiedliche Maßnahmen. Frankreich kündigte ebenso wie die Niederlande und Italien neue Beschränkungen für private Treffen und Restaurantbesuche an. Tschechien geht wegen galoppierender Infektionszahlen in eine Art zweiten Lockdown. In Deutschland wird heftig über interne Reisebeschränkungen zwischen den Bundesländern diskutiert. Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte per Videoschalte vor europäischen Regionalpräsidenten und Bürgermeistern in Brüssel, sie beobachte den Anstieg der Infektionen in allen Teilen Europas mit großer Sorge. "Die Lage ist unverändert ernst", sagte Merkel.

Merkel im Gespräch mit Michel (kleiner Bildschirm): Die Lage ist ernstBild: Pignatelli/EUC/ROPI/picture-alliance

Grenzen offen halten, Lockdown verhindern

Die Testraten sind in den EU-Mitgliedsstaaten nach wie vor sehr unterschiedlich. Während Luxemburg über 6000 Tests pro 100.000 Einwohner durchführt, sind es in Bulgarien nur 380. Die Statistiken über Infektionsraten sind deshalb kaum zu vergleichen. Die europäische Seuchenbehörde ECDC in Stockholm weist vor dem Gipfeltreffen darauf hin, dass die Übersterblichkeit in den meisten Ländern auf normalem Niveau verharrt - die Krankheit verläuft also in weniger Fällen tödlich als noch im Frühjahr. In einigen Staaten wie Spanien oder Frankreich steigt die Belegung der Krankenhausbetten aber regional wieder an.

Die Staats- und Regierungschefs werden sich gegenseitig versprechen, möglichst koordiniert vorzugehen. Einig ist man sich, dass die Grenzen zwischen den EU-Staaten - anders als in der ersten Welle im März, April und Mai - offen bleiben sollen. Der Reiseverkehr ohne Kontrollen zwischen den Staaten der Schengen-Zone soll möglich bleiben. Die Wirtschaft könne nicht erneut heruntergefahren werden, meinte Bundeskanzlerin Angela Merkel vor dem Gipfeltreffen. Man müsse "dafür Sorge tragen, dass kein weiterer Lockdown von Nöten sein wird."

Corona-Ampel soll helfen

Auf freiwilliger Basis hatten die EU-Europaminister diese Woche bereits eine "Corona-Ampel" für alle europäischen Regionen beschlossen, bei der zum ersten Mal nicht nur die Neuinfektionen, sondern auch die Testraten gewichtet werden. Die in Deutschland geltende starre Inizidenzregel von 50 pro 100.000 Einwohnern wird auf eine Spanne von 25 bis 150 ausgedehnt. Die Staats- und Regierungschefs begrüßen dieses Warnsystem für Reisende. Die Teilnahme ist allerdings freiwillig. Über weitergehende Corona-Maßnahmen wie eine Quarantäne- oder Testpflicht, die aus der Warn-Ampel abgeleitet werden, entscheiden nach wie vor die Mitgliedsstaaten selbst. Die Staats- und Regierungschefs wollen beraten, wie die Versorgung der EU mit Impfstoffen sichergestellt werden kann, sobald diese entwickelt sind. Dann soll die EU-Kommission für die gesamte Union auf Einkaufstour gehen.

Polen pokert: Parteichef Jaroslaw Kaczynski (li.) droht mit einem Veto gegen den EU-HaushaltBild: Hubert Mathis/ZUMA Wire/picture-alliance

Komplizierte Haushaltsverhandlungen

Bundeskanzlerin Merkel, die bis zum Jahresende auch Ratsvorsitzende der EU ist, drängt darauf, dass das Europäische Parlament dem Corona-Wiederaufbaufonds und dem EU-Haushalt für die nächsten sieben Jahre in Höhe von insgesamt 1,8 Billionen Euro möglichst schnell zustimmt. "Nun gilt es, das Paket auf den Weg zu bringen, damit die Mittel Anfang 2021 auch wirklich eingesetzt werden können. Dazu arbeiten wir mit Hochdruck an einer Einigung mit dem Europäischen Parlament", verspricht Merkel, deren EU-Botschafter in Brüssel derzeit die komplizierten Verhandlungen mit dem Parlament führt. Die EU-Abgeordneten fordern Nachbesserungen bei der Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit von Mitgliedsstaaten vor einer Auszahlung von EU-Mitteln. Das lehnt vor allem Polen vehement ab. Der polnische Vizepremier Jaroslaw Kaczynski  droht mit einem Veto in den Haushaltsverhandlungen. Die EU kritisiert seit langem die polnischen Justizreformen, die den Rechtsstaat in Polen aushöhlen.

Wirtschaftlich wenig bedeutend, politisch ein großes Brexitproblem: Fangquoten in britischen Gewässern will Premier Johnson hart aushandelnBild: Getty Images/B. Stansall

Beim Brexit wartet die EU auf Johnsons Einlenken

Beim Brexit gibt es für die Staats- und Regierungschefs nichts zu verhandeln, denn der Gegenpart, der britische Premierminister Boris Johnson, ist gar nicht erst eingeladen. Die Gespräche der Unterhändler über ein Handelsabkommen mit dem Vereinigten Königreich, das nach einer Übergangsfrist am 1. Januar 2021 aus dem europäischen Binnenmarkt ausscheiden wird, treten auf der Stelle. Beide Seiten werfen sich vor, keine Zugeständnisse bei den Themen Staatsbeihilfen, Fischfang und juristische Kontrolle eventueller Abkommen machen zu wollen. Die EU-Staats- und Regierungschefs seien daran interessiert, ein faires Abkommen zustande zu bringen, meinte der Vorsitzende der Gipfelrunde, Charles Michel - "aber nicht um jeden Preis". Ein vom britischen Premier Johnson gestelltes Ultimatum, das am Donnerstag abläuft, wird der Gipfel in Brüssel wohl ignorieren. Johnson hatte angekündigt, sich nach dem Gipfel äußern zu wollen, wie es aus Sicht seiner Regierung weitergehen soll. Der Chef-Unterhändler der EU, Michel Barnier, rechnet inzwischen damit, dass die Post-Brexit-Verhandlungen sich in den November ziehen werden. Klar ist nur, dass die EU den Verhandlungstisch nicht als Erste verlassen will. "Wir verhandeln, so lange es irgendwie geht", sagte dazu ein hoher deutscher Beamter.

Die Staats- und Regierungschefs werden auch über die Klimaschutzziele der EU sprechen. Hier ist umstritten, wie hoch die Einsparungen an Kohlendioxid bis zum Jahr 2030 ausfallen sollen. Entscheidungen sind erst im Dezember geplant. Am zweiten Gipfeltag stehen dann die Afrika-Strategie und eine Reihe außenpolitischer Krisenherde von Belarus bis zur Türkei auf der Tagesordnung.

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union
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