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PolitikEuropa

EU will "Abschiebe-Paten" für Migranten

23. September 2020

EU-Staaten, die keine Migranten aufnehmen wollen, sollen sie als "Paten" für andere Staaten abschieben. Die EU-Kommission definiert Solidarität neu und will schnelle Verfahren. Aus Brüssel Bernd Riegert.

Griechenland Lesbos | Umzug in neues Lager Kara Tepe
Lager wie das neue "Kara Tepe" auf Lesbos soll es nicht mehr geben, verspricht die EU-KommissionBild: Reza Shirmohammadi/DW

Die EU-Kommission verspricht etwas völlig Neues in der Asyl- und Migrationspolitik. "Im Moment haben wir ein nicht existierendes System und das muss sich ändern", sagt der EU-Kommissar für "europäischen Lebensstil", Margaritis Schinas. Das alte Dublin-System werde überwunden, kündigt Schinas an. Nach den Dublin-Regeln ist bislang der EU-Mitgliedstaat der ersten Einreise eines Asylbewerbers oder Migranten für diesen zuständig. Künftig könnten die Mitgliedstaaten wählen, ob sie Asylbewerber aufnehmen wollen oder lieber bei der Rückführung und Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern helfen wollen.

Johansson: Ein ganz neuer PaktBild: Dursun Aydemir/picture-alliance/dpa

"Rückführungs-Patenschaften" sollen die Lösung sein

Diese Form von Solidarität sei nicht optional, sagt die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen. Die Solidarität sei verpflichtend. Eine feste Quote für die Verteilung von Migranten aus Griechenland oder Italien auf andere Mitgliedsstaaten werde es nicht geben, sagt die EU-Kommissarin für Migration, Ylva Johansson. Sie bestreitet aber gleichzeitig, dass sie vor den Staaten wie Ungarn oder Polen eingeknickt sei, die eine Aufnahme von Asylbewerbern oder Migranten seit 2015 kategorisch ablehnen. Solche Staaten sollten in Zukunft dann die Rückführung von abgelehnten Asylbewerbern verpflichtend organisieren. Ein Beispiel: Ungarn würde dann wohl Menschen aus Afghanistan, die in Griechenland kein Asyl erhalten, aus Griechenland nach Afghanistan zurückschaffen. "Natürlich müssten alle internationalen Vorschriften eingehalten werden", sagt Ylva Johansson. Ungarn wäre auch die Wiedereingliederung der Zurückgeschobenen in Afghanistan zuständig. Diesen Weg nennt die EU-Kommission "Rückführungs-Patenschaften".

Schinas: Keine rote Linie eines Mitgliedstaates wird überschrittenBild: Dursun Aydemir/picture-alliance/dpa

Die Migrations-Kommissarin weist daraufhin, dass rund zwei Drittel aller irregulär in die EU Einreisenden am Ende kein Asyl erhalten. Diese Menschen sollten in Zukunft alle schnell zurückgeschoben werden. Das scheiterte bislang daran, dass die Herkunftsstaaten ihre Staatsbürger nicht wieder aufgenommen haben oder die Identität oder Nationalität nicht festgestellt werden konnte. Viele Menschen, die zurückgeschickt werden sollten, tauchten unter.

Einzelteile des Paktes

Die beiden Kommissare Schinas und Johansson skizzieren, wie das Verfahren zukünftig ablaufen soll:

  • Ankommende sollen an allen EU-Außengrenzen innerhalb von fünf Tagen, erfasst, gesundheitlich untersucht auf Sicherheitsrisiken geprüft werden. In diesen fünf Tagen nach Ankunft soll außerdem bestimmt werden, ob überhaupt eine Aussicht auf Asyl in der EU besteht. Menschen, die aus Staaten kommen, bei denen die Anerkennungsquote unter 20 Prozent liegt, sollen in ein Schnellverfahren geschickt werden. Innerhalb von zwölf Wochen soll dann über einen Asylantrag noch an oder in der Nähe der Außengrenze entschieden werden.
  • Die übrigen Asylbewerber sollen dann auf die EU-Mitgliedstaaten verteilt werden. Das Hauptkriterium wird künftig die Familienzugehörigkeit sein. Hat ein Asylbewerber Verwandte in Deutschland, Frankreich, Italien oder Spanien wird er dorthin zum Asylverfahren geschickt. Das aufnehmende Land kann sich die Nationalität der Asylbewerber, die es am liebsten hätte, wünschen. Hat der Asylbewerber keine Verwandten oder andere besondere Verbindungen zu einem EU-Staat, bleibt er im Land der ersten Einreise. Dann wäre dieses für sein Asylverfahren zuständig.
  • Verteilung von Asylbewerbern: Schnelle Verfahren, Familie als KriteriumBild: Imago/IPON
  • Nach Angaben von Kommissarin Johansson soll es keine großen Lager, wie Moria auf Lesbos, mehr geben. Es komme vor allem darauf an, dass die Verfahren schnell abliefen und Rückführungen zügig durchgeführt würden. Die EU hat zurzeit Rückführungsabkommen mit 24 Herkunftsstaaten, "die aber nicht alle funktionieren", wie Ylva Johansson eingesteht. Afghanistan, Syrien und Irak, drei der hauptsächlichen Herkunftsländer sind nicht darunter. Die Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländer solle aber verstärkt werden, kündigt EU-Kommissar Margaritis an.
  • Sollte ein Mitgliedsland als "Rückführungs-Pate" es nicht schaffen, abgelehnte Asylbewerber in ihre Herkunftsländer abzuschieben, wäre es nach acht Monaten verpflichtet, diese im eigenen Land aufzunehmen. Wäre also zum Beispiel Ungarn nicht in der Lage, 100 Afghanen aus Griechenland rückzuführen, würden diese Afghanen nach Budapest gebracht werden müssen. Die Frage, ob Ungarn und auch die betroffenen Afghanen das freiwillig mitmachen würden, ist offen. 
  • Rückführung mit Paten: Ein letztes Gebet vor dem Rückweg nach Afghanistan (Archiv)Bild: picture-alliance/dpa/M. Kappeler
  • Die sogenannte sekundäre Migration soll unterbunden werden. Wenn ein Asylbewerber in Griechenland abgelehnt wird, soll er nicht mehr nach Deutschland weiterziehen können, um dort erneut einen Antrag zu stellen. Das müsse man mit mehr Kontrollen und ein besseren Sicherung der Außengrenzen und schneller Rückführung hinbekommen, meint die Migrations-Kommissarin Johansson.

In der Pressekonferenz, in der der neue Pakt vorgestellt wurde, wurden Zweifel laut, ob das in der Praxis alles so umgesetzt werden könne. Schon heute funktionierten Registrierung und Asylverfahren in Griechenland und in Italien in vielen Fällen nicht oder ziehen sich in die Länge.

"Optimistisch bleiben"

Margaritis Schinas schiebt Bedenken mit der lapidaren Bemerkung beiseite, in Brüssel tendiere man zum Pessimismus und sehe nicht, was funktionieren könne. Er hingegen sei ein Optimist. Die Vorschläge der Kommission müssen nun von den Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament gebilligt werden. Die letzten Vorschläge zur Migration aus dem Jahr 2016, die sich in vielen Bereichen mit den heutigen Vorschlägen decken, wurden von den Mitgliedstaaten mehrfach verworfen.

Ungarische Grenze: Asylbewerber sollen auch weiterhin draußen bleibenBild: picture-alliance/Photoshot

Hilfe für griechische Behörden

Die EU-Kommissare kündigen an, dass eine "schnelle Eingreiftruppe der EU" nach Lesbos entsandt werden soll, um das neue Ersatzlager "Kara Tepe" zu managen. Dort sind bis zu 10.000 Migranten untergebracht, die nach dem Brand im Lager "Moria" vor zwei Wochen obdachlos wurden. Diese Eingreiftruppe, EU-Beamte aus der Asylagentur EASO und von der Grenzschutzbehörde "Frontex", sollen die griechischen Behörden entlasten. Bislang waren allerdings auch schon 400 EU-Beamte auf Lesbos im Einsatz.

Die EU-Kommissarin für Migration, Ylva Johansson, die sich eng mit dem deutschen Innenminister Horst Seehofer (CSU) abgestimmt hat, meint zu den bevorstehenden Verhandlungen mit den 27 Mitgliedsstaaten: "Migration ist etwas Normales. Das ist keine komplizierte Raketen-Wissenschaft. Uns fehlte der gemeinsame Ansatz. Neu ist jetzt dieser gemeinsame, ausbalancierte Ansatz."

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union
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