EU will erstmals Schulden machen
27. Mai 2020"Das ist der entscheidende Moment für unsere Generation", sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei der Vorstellung des Haushaltsentwurfs im Europäischen Parlament in Brüssel. Kein Land in der EU könne allein aus der Wirtschaftskrise herauskommen, die die Maßnahmen der Corona-Pandemie ausgelöst haben. "Die mutigsten Maßnahmen sind die besten für unsere Zukunft", warb von der Leyen für ihren Plan. "Dies ist der Moment Europas."
Den Konjunkturfonds taufte die Kommissionschefin "Nächste Generation Europa", um deutlich zu machen, dass es um "Investitionen in eine gemeinsame Zukunft" gehe, und nicht um die Rückzahlung alter Schulden. Die Grundlage für ein grünes, digitales und soziales Europa solle geschaffen werden. "Jeder Mitgliedsstaat ist von der Krise betroffen, deshalb muss es unser gemeinsames Interesse sein, aus der Krise gemeinsam und schnell wieder heraus zu kommen", sagte von der Leyen der DW nach ihrem Auftritt im Parlament. "Wir müssen den gemeinsamen Binnenmarkt der EU rapide reparieren. Das kann kein Mitgliedsstaat alleine. Wir hängen alle voneinander ab."
Komplexes Zahlenwerk
Es ist der größte Haushalt, den die Europäische Union jemals auf den Weg gebracht hat. In den kommenden sieben Jahren will die EU-Kommission 1,85 Billionen Euro ausgeben. Das wären jährlich etwa 1,9 Prozent der Wirtschaftsleistung der 27 EU-Staaten im Jahr 2019.
1,1 Billionen davon bilden den regulären, für sieben Jahre aufgestellten Haushaltsrahmen. Die übrigen 750 Milliarden sind für das Programm zum Aufbau der von der Corona-Pandemie geschädigten Wirtschaft vorgesehen. Das Geld soll in den nächsten zwei Jahren an schwer getroffene Regionen und Branchen verteilt werden.
Die EU-Staaten selbst haben in ihren nationalen Haushalten bereits das Dreifache, nämlich 2,4 Billionen Euro, für die Unterstützung nationaler Unternehmen veranschlagt. Fast die Hälfte davon entfällt auf Deutschland. 540 Milliarden Euro hat die EU schon vor Wochen für drei akute Hilfsprogramme bereitgestellt. Dieses Geld wurde bislang nur zum Teil abgerufen.
Weitere Schritte folgen
Kommissionspräsidentin Von der Leyen hatte in den letzten Wochen die Aufgabe, diesen größten EU-Haushalt samt "Aufbau-Instrument" in rekordverdächtiger Zeit zusammenzustellen. Das sei wohl die Quadratur des Kreises, sagte dazu ihr Vorgänger Jean-Claude Juncker kürzlich in der DW. Jetzt müssen die 27 Mitgliedsstaaten der EU, das Europäische Parlament und auch die nationalen Parlamente dem gewaltigen Paket zustimmen. In Brüssel rechnet man mit harten, langen Verhandlungen bis hinein ins zweite Halbjahr 2020. Dann übernimmt Deutschland turnusmäßig die Ratspräsidentschaft der EU - also das finanzstärkste Mitgliedsland und der größte Nettozahler. Die Einigung über das Konjunkturprogramm im Laufe dieses Jahres ist das erklärte Ziel von Bundeskanzlerin Angela Merkel.
"Außerordentlich und dringend"
Um die nötige Liquidität zu beschaffen, will die EU völlig neue Wege beschreiten und erstmals in großem Umfang gemeinschaftliche Schulden aufnehmen - trotz rechtlicher Bedenken, denn der EU-Vertrag sieht das eigentlich nicht vor. Der Chef der Denkfabrik "Bruegel" in Brüssel, Guntram Wolff, hält eine gemeinschaftliche Schuldenaufnahme wegen der außerordentlichen Herausforderungen durch die Pandemie für nötig und vertretbar. EU-Kommissionspräsidentin Von der Leyen sagte, die Schuldenaufnahme sei wegen der "dringenden und außerordentlichen Krise" geboten. Sie solle eine Ausnahme bleiben und auf zwei Jahre begrenzt sein.
EU-Kommission folgt deutsch-französischem Vorschlag
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron hatten eine Schuldenaufnahme befürwortet und sich damit den südlichen EU-Staaten angeschlossen. Auch die EU-Kommission übernimmt dieses Konzept. Andere Nettozahler im Norden, allen voran die "sparsamen Vier" - Niederlande, Österreich, Dänemark und Schweden - sehen eine gemeinschaftliche Verschuldung eher kritisch. Der Kredit in Höhe von 750 Milliarden Euro, den die EU-Kommission an den Finanzmärkten mit Garantien aller Mitgliedsstaaten aufnehmen will, soll über 20 bis 30 Jahre gemeinsam von allen EU-Staaten zurückgezahlt werden. Dazu will die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gemeinsame Steuern der EU, die sogenannten Eigenmittel, nutzen. Dem standen die Mitgliedsstaaten bisher immer ablehnend gegenüber. "Ich denke, in einer komplett neuen Situation muss man auch komplett neue Wege gehen", sagte von der Leyen der DW mit Blick auf die tiefe Rezession in der EU.
Kein Freifahrtschein, sondern konkrete Projekte
Auf der Ausgabenseite stellte die EU-Kommissionspräsidentin ein ganzes Bündel von Fonds und Förderprogrammen vor, über die das Geld für die Konjunkturbelebung ausgezahlt werden soll. Die Auszahlungen sollen an konkrete Bedingungen und Projekte gebunden werden, fließen also nicht direkt in die Staatskassen der begünstigten Länder. Dabei sollen Investitionen in den Klimaschutz, den Ausbau des Gesundheitswesens und die digitale Wirtschaft besonders berücksichtigt werden. Die Programme werden von der EU kontrolliert, wie im normalen Haushaltsverfahren üblich.
Größte Empfänger: Italien, Spanien, Frankreich
Die Kommission schlägt vor, 500 Milliarden Euro als Zuschuss zu vergeben. 250 Milliarden Euro sollen den Mitgliedsstaaten als Kredite bereitgestellt werden. Deutschland und Frankreich hatten sich ebenfalls für 500 Milliarden an Zuschüssen ausgesprochen. Die 250 Milliarden an Krediten schlägt die Kommission zusätzlich vor. Die Vertreter der "sparsamen Vier", allen voran Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz, hatten darauf bestanden, dass keine Zuschüsse, sondern rückzahlbare Kredite vergeben werden.
Italien, Frankreich, Spanien und sechs andere Staaten bestehen hingegen auf Zuschüsse, weil zusätzliche Kredite die Schuldenlast der betroffenen Staaten zu stark anheben würden. Nach ersten vorläufigen Berechnungen würde Italien aus dem Topf "Nächste Generation Europa" etwa 173 Milliarden Euro erhalten, mehr als die Hälfte davon allerdings als Kredite. Spanien erhielte rund 140 Milliarden Euro. Frankreich bekäme 39 Milliarden Euro als Zuschuss ausgezahlt. Deutschland rund 28 Milliarden Euro.