Ursula von der Leyen: Europas mächtigste Frau im Dauerstress
8. Oktober 2025
Die Diskussion war hitzig. Am Montagnachmittag tagte das Europaparlament zum zweiten Mal nach der Sommerpause in Strasbourg. Und es ging direkt ans Eingemachte.
Der französische Vorsitzende der rechtsextremen Gruppe "Patriots for Europe", Jordan Bardella, warf der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mangelnde Transparenz, Versagen bei der Migrationspolitik, und einen Verlust der Wettbewerbsfähigkeit durch ihre Klimapolitik vor. Auch der Zoll-Deal mit den USA sei eine Katastrophe: "Sie haben tatsächlich die Kapitulation Europas unterzeichnet."
Dann kam die stellvertretende Vorsitzende der Linken-Fraktion, die französische Politikerin Manon Aubry an die Reihe. Und auch ihre Vorwürfe wogen schwer: Versagen im Umgang mit Israel im Krieg in Gaza, beim Erreichen des Green-Deals, Fokussierung auf Waffenkäufe statt auf sozialer Absicherung: "Sie müssen gehen," wiederholte sie mit Inbrunst immer wieder.
Von der Leyen hingegen gab sich ruhig. Sie konterte gefasst und rief zur Einheit auf: " Die Wahrheit ist: Unsere Gegner sind nicht nur bereit, jede Spaltung auszunutzen, sie schüren diese Spaltungen aktiv."
Es ist beispiellos, dass eine Kommissionspräsidentin innerhalb von nur drei Monaten mit zwei Misstrauensvoten konfrontiert wird. Doch auch wenn ein Sturz bei der Abstimmung am Donnerstag als unwahrscheinlich gilt: Die Häufung der Verfahren zeigt, wie fragmentiert das Parlament und wie fragil das Vertrauen zwischen Kommission und Parteien aus der politischen Mitte mittlerweile geworden sind.
Angriffe von links und rechts
Anders als im Juli kommt der Vorstoß diesmal nicht nur vom rechten politischen Rand, sondern auch von der radikalen Linken. Inhaltlich prallen Weltbilder aufeinander, doch die Ziele ähneln sich: Es geht darum, von der Leyen politisch zu treffen, ihre Autorität zu untergraben und die eigene Machtposition im Parlament zu stärken.
Für Almut Möller, Direktorin für europäische und globale Angelegenheiten am European Policy Centre (EPC), ist das wenig überraschend. Angesichts der wachsenden Zersplitterung im Parlament sei es "nicht verwunderlich, dass es mehr Misstrauensanträge gibt".
Olivier Costa, CNRS-Forschungsdirektor und Kenner der EU-Institutionen, stimmt Möller zu. Auch er sieht den Ursprung der Verfahren im Aufstieg extremistischer Kräfte links und rechts.
Kritik am Führungsstil
Darüber hinaus erkennt er zwei weitere Gründe: Erstens eine schwindende Kooperationsfähigkeit von Sozial- und Christdemokraten, dem früheren Grundbündnis des europäischen Parlaments. Und zweitens einen Führungsstil von Ursula von der Leyen, den viele als zu zentralisiert und hierarchisch empfinden.
"Die Kommissionspräsidentin versteht ihr Amt wie das einer Premierministerin," erklärt Costa. Das Prinzip von Kooperation und Konsens träten zurück, Entscheidungen würden machtzentriert um ihre Person getroffen. Das habe im Parlament und selbst innerhalb der Kommission für Unmut gesorgt.
Schwierige Mehrheitsverhältnisse
Zugleich ist die politische Geometrie in Europa komplizierter geworden. Die frühere "Große Koalition" aus der rechtskonservativen EVP und den Sozialdemokraten S&D reicht seit 2019 nicht mehr für stabile Mehrheiten.
"Wir haben bereits bei einigen Abstimmungen gesehen, insbesondere bei den Themen Umwelt, Migration und internationalen Themen, dass die EVP nicht mehr zögert, mit der extremen Rechten zu stimmen," erklärt Costa.
Persönliche Verwerfungen zwischen Manfred Weber (EVP) und Iratxe García (S&D) an der Fraktionsspitze erschwerten Kompromisse zusätzlich. Das Ergebnis: ein Machtvakuum in der Mitte, das von den politischen Rändern genutzt wird.
Die Mitte wackelt
Noch versuchen die Parteien im Zentrum zusammenzuhalten, doch die Geduld am Kurs der Kommissionspräsidentin bröckelt: "Wir sehen mittlerweile, dass die politische Basis, auf der die Kommissionspräsidentin und ihre Kommission stehen, zwar noch hält, aber selbst in der Mitte nicht mehr besonders stabil ist," erklärt Politikwissenschaftlerin Almut Möller
Kritik kommt von allen Seiten: Teile der Liberalen monieren den nur schleppenden Bürokratieabbau, in der EVP ärgert man sich über Alleingänge in der Außenpolitik, bei den Sozialdemokraten und Grünen wiederum wächst die Skepsis gegenüber einem Kurswechsel hin zu Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit, weg von sozialen Projekten und dem Green Deal.
Möller warnt dennoch vor Schnellschlüssen: "Die Vorwürfe gefährden die Macht der Präsidentin nicht fundamental." Entscheidend sei, jetzt die Mitte zusammen und bei Laune zu halten.
"Ironischerweise bietet ihr das bevorstehende Misstrauensvotum eine Gelegenheit dazu," ergänzt sie. Von der Leyen kann ihre Koalition disziplinieren, indem sie die Abstimmung zur Loyalitätsfrage macht.
Gefährlich oder belebend?
Sind solche Anträge also ein Symbol für eine gefährliche Destabilisierung oder Ausdruck demokratischer Lebendigkeit? "Beides," sagt Costa. "Kontroversen sind ein Beleg lebendiger Demokratie in der EU. Aber wenn sie Überhand nehmen, droht ein Funktionsverlust."
Somit entscheidet das Parlament am Donnerstag über die Zukunft von der Leyens. Costa sieht keinen Anlass für ein baldiges Ende der Amtsinhaberin, sondern eine neue Normalität stetiger Stresstests. "Von der Leyen wird weder abdanken noch entlassen werden, sie ist für viele immer noch die beste Option. Denn was wäre die Alternative?"
Doch wie groß das Nein-Lager ausfalle, sei politisch bedeutsam: "Ein schwaches Ergebnis würde die abgekühlte Beziehung zwischen Kommission und Parlament spiegeln."
Entscheidend für ihn und viele Beobachter hier in Strasbourg ist also nicht das Ob, sondern das Wie: Je knapper die Abwehr, desto kleiner die Unterstützung - und umso größer der Druck in den anstehenden Haushalts-, Handels- und Klimagesetzen. Für eine Kommissionspräsidentin, die Führung beansprucht, bleibt es ein Balanceakt zwischen Durchsetzung und Einbindung.