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PolitikAsien

EU machtlos in Berg-Karabach

Barbara Wesel
7. Oktober 2020

Das Europaparlament fordert, dass die EU in Berg-Karabach handelt. Aber Chefdiplomat Josep Borrell verweist auf Diplomatien, die Minsk-Gruppe und die EU-Regierungschefs, die Sanktionen gegen Ankara derzeit ablehnen.

Berg-Karabach Konflikt
Immer wieder wird in der Region auch mit Raketen geschossenBild: Reuters

Am Morgen schon hatten sich einige hundert fahnenschwenkene Exil-Armenier vor der EU-Kommission im Brüsseler Europaviertel versammelt. Sie protestieren gegen die Zurückhaltung der EU gegenüber der Türkei, die sie in den gegenwärtigen Kämpfen um Berg-Karabach als Aggressor sehen. "Wir verlangen konkretes Handeln von der EU", erklärte etwa die in Belgien lebende Politologin Lucine Hayraoetyn. Aber die Chancen dafür stehen derzeit schlecht.

Armenische Diaspora macht mobil

Eine der größten armenischen Exilgemeinden lebt in Frankreich, wo sich nach dem Genozid an den Armeniern 1915 etwa eine halbe Million Armenier ansiedelten. Aber auch aus den Niederlanden reisten Vertreter Armeniens nach Brüssel: "Wir haben Busse aus dem Norden Hollands organisiert", sagte Sepouh Abrahamian, einer der Organisatoren der Proteste. Die Regierungen in der Türkei und in Aserbaidschan destabilisierten die ganze Region: "Alle Armenier in Europa müssen jetzt ihre Stimme erheben, damit die Welt die echten Terroristen in der Region erkennt."

Armenier protestieren im Brüsseler EuropaviertelBild: Rosie Birchard/DW

Wirtschaftsstudent Arakel Karapetyan beschuldigt die Türkei und Aserbaidschan, dass sie den Genozid von 2015 zu Ende bringen wollten, ein Vorwurf, der immer wieder zu hören ist: "Wenn wir zusammenstehen, werden sie uns nicht brechen und wir werden das nicht noch einmal geschehen lassen." Seine Nachbarin bricht dabei in Tränen aus: "Ich will das das aufhört, jetzt! Da sterben Kinder und Unschuldige, ich kann nicht schlafen, ich kann nicht essen, weil unsere Landsleute sterben. Bitte Welt, beende diesen Krieg!"

Starke Worte im Europaparlament

Wenn es nach der Mehrheit der Europaabgeordneten geht, müsste die EU tatsächlich etwas tun. "Wir verlangen die Einstellung der Kämpfe", forderte die Französin Sylvie Guillard von der Renew Fraktion. Man müsse gegen die Türkei vorgehen, die den Konflikt anheizt. Und so ging es quer durch die politischen und nationalen Reihen: "Erdogan will das ottomanische Reich wiederherstellen", erklärte der niederländische Christdemokrat Peter van Dalen. Man könne den türkischen Präsidenten nicht durch Reden aufhalten, nur durch harte Sanktionen.

Der bulgarische Abgeordnete Angel Dzhambazki warf der Türkei "imperiale Fantasien" vor und den Export islamistischer Kämpfer in die Region. Immer wieder kam der Vorwurf, die Türkei wolle den Genozid an den Armeniern von 1915, der von ihr selbst weiter geleugnet wird, jetzt zu Ende führen. Und nur wenige, wie der deutsche Abgeordnete der Europäischen Volkspartei (EVP), Michael Gahler, mahnen vorsichtig, den Konflikt zu "internationalisieren" und die offiziellen Vermittler der Minsk-Gruppe von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) ihre Arbeit tun lassen. Die Mehrzahl der Parlamentarier zeigte sich eher kämpferisch: "Das ist ein Angriffskrieg gegen die Armenier, unterstützt von Erdogans Dschihadisten", schimpfte etwa Charlie Weimers aus Schweden. Und quasi alle Klagen und Analysen gipfelten darin, dem türkischen Präsidenten jetzt endlich mit Sanktionen Paroli zu bieten.

Als EU-Chefdiplomat Josep Borrell nach der Debatte das Wort ergriff, schien er frustriert vom kollektiven Fäusteschwingen im Parlament: "Die Botschaft ist klar, ich habe jetzt 65 Mal die Besorgnis über die Lage und die Forderung zum Handeln gehört." Die Minsk-Gruppe (Russland, Frankreich, USA), die seit Jahren in dem Konflikt vermittelt, sei hier der richtige Verhandlungspartner, und die EU werde tun, was sie "auf diplomatischer Ebene" könne. Die Abgeordneten wüssten doch, dass die EU-Regierungschefs beim Gipfel vorige Woche die Debatte über Sanktionen gegen die Türkei auf Dezember verschoben hätten. "Daran müssen wir uns halten", fügte Borrell hinzu. Will sagen, ihm sind die Hände gebunden.

Die EU könnte den Preis hochtreiben

Normale Diplomatie habe im Konflikt um Berg-Karabach noch nie geholfen, sagt Marc Pierini von der Denkfabrik Carnegie Europe. Der frühere EU-Botschafter in Ankara hat keine Illusionen über die Beweggründe von Präsident Erdogan: Er habe Europa mit glimmenden Konflikten umgeben, von Syrien, über Libyen, Zypern und Griechenland bis zuletzt Berg-Karabach. Es gehe ihm um Störung und Zersetzung der EU, vor allem aus innenpolitischen Gründen. Und an dem Punkt träfen sich dann Erdogans Interessen mit denen des russischen Präsidenten Putin.

In der Wahl des Zeitpunktes aber in Bezug auf Berg-Karabach, handele der türkische Präsident schlau, erklärt Pierini: "Die USA sind durch die Wahlen gelähmt, und das wird mindestens bis Ende Januar dauern. Russland hat mit Armenien einen Verteidigungspakt, aber der bezieht sich nicht auf die Exklave." Deshalb auch verhalte sich Moskau zurückhaltend, so Pierini. Und militärisch sei Aserbaidschan in der Region überlegen: "Das aserbaidschanische Militär ist mit türkischen und israelischen Drohnen ausgerüstet, die extrem effektiv sind." Die Flugzeuge und Panzer auf armenischer Seite seien wegen des schwierigen Terrains weniger nützlich.

Leidtragende des Konflikts ist die ZivilbevölkerungBild: Pablo Gonzalez/Agencia EFE/Imago Images

Pierini glaubt, dass bei den routinemäßigen Manövern zwischen der Türkei und Aserbaidschan vor einem Monat der jetzige "Ernstfall" und das Vorgehen in Berg-Karabach schon geplant worden seien.

Wenn aber Sanktionen gegen die Türkei, dann richtig, sagt Marc Pierini: Die türkische Wirtschaft sei verletzlich, vor allem die Rüstungsindustrie. Da würden sich die Türken auf Technologie aus Europa verlassen, seien es Hubschrauber-Teile aus Spanien oder deutsche Siemens-Motoren bei den U-Booten. An diesem Punkt könne die EU den Preis hochreiben für Präsident Erdogans politische Abenteuer.

Frankreich als Hoffnungsschimmer

Richard Giragosian, Direktor des "Regional Studies Center" in Eriwan, sieht dagegen in der direkten diplomatischen Intervention durch Frankreich einen "Hoffnungsschimmer". Die französische Initiative erkenne an, dass Russland ein legitimes Interesse in dem Konflikt habe. "Dadurch wird auch die seltene Kooperation Russlands mit dem Westen bei der Forderung nach einem Waffenstillstand belohnt."

Präsident Macron versuche auch, Ankara wegen der aggressiven Haltung der Türkei in Nordafrika, im Nahen Osten und im östlichen Mittelmeer zurückzudrängen. Er reagiere damit direkt auf die größere Strategie von Präsident Erdogan, erklärt Giragosian. Die EU insgesamt aber müsse eine robustere Antwort auf die strategischen Ambitionen der Türkei geben, denn sie werde auch mit einem militärischen Vorrücken Aserbaidschans in Berg-Karabach nicht zufrieden sein.

Die Reaktionen der EU aber nennt Analyst Giragosian "langsam und behäbig". Die Sicherheitsbedrohungen für Europa hätten sich 2020 verschärft, aber der langsame politische und diplomatische Apparat sei diesen - in Abwesenheit der USA - nicht gewachsen. "Trotz Jahren der diplomatischen Bemühungen für Friedensgespräche, stehen Armenien und Berg-Karabach jetzt alleine, mit keinem Partner und wenig Hoffnung für ernsthafte Verhandlungen", resümiert Richard Giragosian. Eine ernüchternde Analyse, die wenig auf europäische Handlungsfähigkeit setzt.

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