EU nur mit Freizügigkeit
3. November 2014 In Großbritannien wird die Debatte über einen möglichen Austritt aus der Europäischen Union vermischt mit Fragen der Einwanderung immer heftiger geführt. Die Zeitung "The Guardian" berichtet am Montag in ihrer Online-Ausgabe, dass Artikel über angebliche Äußerungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Großbritanniens möglichem Ausstieg aus der EU, eine selten hohe Resonanz bei den Lesern ausgelöst hätten.
Der "Guardian" selbst hatte am Sonntag geschrieben, Merkel sei bereit, den Austritt Großbritanniens hinzunehmen, falls die britische Regierung die Einwanderung von EU-Bürgern beschränken wolle, also das Prinzip der Freizügigkeit für EU-Bürger aufgeben wolle. Die Zeitung berief sich wie viele andere Blätter auf den britischen Inseln auf eine Meldung des deutschen Nachrichtenmagazins "Der Spiegel". Das Magazin berichtet in seiner Ausgabe vom Montag, in der Bundesregierung ginge man davon aus, dass Großbritannien die EU verlassen müsse, wenn es die Freizügigkeit einschränken wolle. "Der Spiegel" berief sich auf anonyme Quellen, die Gespräche vom letzten EU-Gipfel zwischen Merkel und dem britischen Premier David Cameron gehört haben wollen.
Keine neue Meinung in Berlin
Der Sprecher der Bundeskanzlerin ruderte in Berlin heute zurück und versuchte, den Inhalt der Spiegel-Meldung richtig zu stellen. "Die Bundesregierung will, dass Großbritannien ein aktives und engagiertes Mitglied der Europäischen Union bleibt", so Sprecher Steffen Seibert. Allerdings werde am Prinzip der Reise- und Niederlassungsfreiheit für alle EU-Bürger nicht gerüttelt. Genau das sagt auch Seiberts Chefin, die Bundeskanzlerin selbst, immer wieder. Angela Merkel in ihrer Pressekonferenz beim EU-Gipfel am 24. Oktober: "Das Grundprinzip der Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union will Deutschland nicht antasten. Das heißt aber nicht, dass es nicht verschiedene Probleme gibt."
Das Problem, auf das sich Angela Merkel bezieht, ist der mögliche Missbrauch von Sozialleistungen durch EU-Bürger in den Gastländern. EU-Bürger haben keinen generellen Anspruch auf Sozialleistungen, wenn sie in ihrem Gastland nicht arbeiten und selbst Geld verdienen. Eine Klage aus Deutschland in dieser Sache ist vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) anhängig. Angela Merkel rechnet mit einem Urteil des EuGH in diesem November. Darüber hat sie bereits mit dem britischen Premier beim letzten EU-Gipfel geredet. "Ich habe heute mit David Cameron darüber gesprochen, dass wir dieses Gerichtsurteil sehr intensiv auswerten und auch gemeinsam auswerten werden", sagte Merkel und vereinbarte mit Cameron, dass eventueller Missbrauch der Freizügigkeit gestoppt werden müsse. Das Prinzip dürfe aber nicht angetastet werden.
Offenbar Verzicht auf Quoten
Offenbar ist diese Botschaft auch in London angekommen. Der britische Premier plant nach einem Bericht der Zeitung "Sunday Times" vom vergangenen Sonntag lediglich EU-Bürger des Landes zu verweisen, die sich nach drei Monaten im Land nicht selbst unterhalten können. Das ist bereits nach geltendem EU-Recht heute möglich. Die Pläne, Einwanderungsquoten für geringer qualifizierte EU-Bürger einzuführen, habe Cameron aufgegeben, schreibt die "Sunday Times". Das geltende Recht solle aber bis an die Schmerzgrenze ausgelegt werden. Der am Freitag aus dem Amt geschiedene EU-Kommissionspräsident Jose Barroso sagte kurz nach dem EU-Gipfel in der "BBC", dass Einwanderungsquoten für EU-Bürger nach Ansicht der EU-Kommission nicht in Frage kämen. "Jede Form einer willkürlichen Begrenzung scheint mir nicht mit europäischen Gesetzen vereinbar zu sein. Für uns ist das Prinzip der Gleichbehandlung sehr wichtig, ebenso wie das Prinzip der freien Bewegung im Binnenmarkt. Das gilt für Waren, Kapital, Dienstleistungen und eben auch für Personen."
Nur fünf Prozent der Einwanderer aus Rumänien und Bulgarien
Jose Barroso erinnerte daran, dass die Freizügigkeit natürlich in alle Richtungen gelte, auch Briten profitierten davon. So habe sich die britische Regierung unter Berufung auf das Prinzip erfolgreich dafür eingesetzt, dass britische Bürger aus Gibraltar ungehindert nach Spanien ein- und ausreisen können. Die nationale Statistikbehörde Großbritanniens veröffentlichte im August die neusten Zahlen zur Einwanderung. Danach sind nach Großbritannien von April 2013 bis März 2014 rund 560.000 Menschen eingewandert. 28.000 davon, also nur rund fünf Prozent, stammten aus den ärmeren EU-Staaten Rumänien und Bulgarien. Die britische Behörde verzeichnete insgesamt eine starke Zunahme der Einwanderung aus den 27 übrigen EU-Staaten. Die britische Nichtregierungsorganisation "Migration Watch" gibt an, dass 83.000 Menschen, Briten und nicht-britische Staatsbürger, aus dem Vereinigten Königreich in die übrigen EU-Staaten ausgewandert sind. Freizügigkeit ist also keine Einbahnstraße.
Cameron ist sauer auf die EU
Der britische Premierminister David Cameron versucht schon seit einiger Zeit mit eher europa-skeptischen Aussagen bei den Wählern zu punkten. Die UKIP, eine Partei, die für den Austritt Großbritanniens aus der EU wirbt, hatte bei den Europa-Wahlen im Mai Camerons Konservative überflügelt. Der Premier hat versprochen, Kompetenzen aus Brüssel nach London zurückzuholen und auch Einwanderung zu begrenzen. "Konkrete Pläne und Vorschläge hat er bis heute nicht vorgelegt", so der inzwischen ausgeschiedene EU-Kommissionspräsident Jose Barroso. Dafür lässt Cameron keine Gelegenheit aus, sich über die EU aufzuregen. "Diese Organisation muss verstehen: Wenn sie sich so verhält, muss sie sich nicht wundern, dass einige Mitglieder sagen, dass könne so nicht weitergehen und müsse sich ändern." So schäumte Cameron beim letzten EU-Gipfel, allerdings nicht wegen der Freizügigkeit, sondern wegen einer nachträglichen Beitragszahlung in Höhe von zwei Milliarden Euro, die die EU-Kommission von Großbritannien und anderen EU-Staaten verlangt.
Unabhängigkeitspartei "UKIP" freut sich
Im Mai wird das Unterhaus in Großbritannien gewählt. Nach der Wahl will David Cameron mit der EU verhandeln und das Ergebnis dann 2017 den Briten zur Abstimmung vorlegen. In dem Referendum soll es dann um einen Verbleib Großbritanniens in der EU gehen, das der Union 1973 beigetreten ist. Die anti-europäische "UKIP" triumphiert unterdessen. Ihr Chef, der Europa-Abgeordnete Nigel Farage, sagte dem britischen Sender "ITV", Premierminister Cameron habe sich in all seinen Versprechen total "verheddert". Man könne sich in der EU das Recht auf Einwanderung nicht zuschneidern, wie man wolle, so Farage. "Nur wenn Großbritannien die EU ganz verlässt, kann es auch wieder die komplette Kontrolle über seine Grenzen erlangen." Aus lauter Sorge, Großbritannien könne der EU tatsächlich den Rücken kehren, seien viele Regierungschefs aus Nordeuropa, einschließlich Deutschland, bereit, der britischen Regierung entgegen zu kommen, erklärte Farage auf der Webseite der UKIP: "Sie sagen, wir wollen Anstrengungen machen und Zugeständnisse machen, weil sie wirklich Angst davor haben, dass Großbritannien austritt. Wenn Großbritannien nur noch einer größeren Freihandelszone angehören will, könnte es ja sein, dass diese nordeuropäischen Staaten das Gleiche wollen."