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Politik

EU will Sozialpolitik stärken

17. November 2017

Die EU will beim Sondertreffen in Schweden soziale Rechte für ihre Bürger feierlich verkünden. Sehr konkret wird es nicht werden und Bundeskanzlerin Angela Merkel schwänzt den Termin. Von Bernd Riegert, Göteborg.

Schweden EU Sozial-Gipfel in Göteborg - Hafen
Bild: DW/B. Riegert

Nieselregen, zwei Grad Celsius, grauer Himmel, graues Meer. Um 16 Uhr ist es stockdunkel. "Zugegeben das Wetter ist im November in Göteborg mies", meint die schwedische Sozialministerin Ylva Johansson lächelnd. "Trotzdem sind so viele nach Göteborg gekommen. Das freut mich." Der erste "Sozial"-Gipfel der Europäischen Union nach zwanzig Jahren sei enorm wichtig, findet die schwedische Gastgeberin vor Beginn der Mammutkonferenz. Die zweitgrößte Stadt Schwedens steht für Strukturwandel und soziale Umwälzungen im gut ausgebauten Sozialstaat Schweden, hat also auch ein wenig Beispielcharakter.

"Wir haben diesen Spalt in der Europäischen Union zwischen denen da oben in Brüssel und denen hier unten an der Basis. Wir müssen wieder ein Wirgefühl schaffen. Das macht nicht Brüssel, dass müssen wir machen." Das Thema Sozial- und Arbeitsmarktpolitik sei dazu sehr gut geeignet, glaubt die Ministerin, die sich am Vorabend des Gipfels zusammen mit EU-Kommissarinnen aus Brüssel den Fragen von schwedischen Bürgern an der Universität Göteborg stellt.

"Es gibt etwas, das uns eint"

In zwanzig Thesen hat die Europäische Union den "sozialen Pfeiler" der Europäischen Union definiert. Vom Recht auf Ausbildung, über Gleichberechtigung und faire Löhne bis hin zum Recht auf Kinderbetreuung und dem Recht auf eine angemessene Wohnung reichen die Forderungen in der Sozialcharta, die von allen 28 EU-Mitgliedsstaaten bereits angenommen wurde und in Göteborg noch einmal feierlich verkündet werden soll.

Bürgerforum am Vorabend des EU-Sozialgipfels: "Spalt zwischen Brüssel und der Basis"Bild: DW/B. Riegert

Das Soziale sei das große identitätsstiftende Thema für die Europäische Union, glaubt die zuständige EU-Kommissarin für Arbeit und Soziales, Marianne Thyssen, bei ihrem Auftritt in der Göteburger Universität. "Von hier wird das Signal ausgehen, dass es etwas Einigendes gibt in der EU. Es gibt Hoffnung und nicht nur Streit."

Mehrfach erhält die EU-Kommissarin aus dem Publikum beim Bürgerdialog die Frage, was sich denn nun konkret ändern werde und solle, wie die wohlfeilen Sozialthesen überall in der Union in die Tat umgesetzt werden können?

Marianne Thyssen antwortet mit der in Brüssel gerne vertretenen These, dass die EU-Mitgliedsstaaten sich selbst um konkrete Umsetzung kümmern müssten. "Das kann nur auf regionaler und lokaler Ebene gelingen, wenn die Sozialpartner, die Gewerkschaften und viele andere Organisationen mitziehen", wirbt die belgische EU-Kommissarin.

Sozialpolitikerinnen Johansson und Thyssen: "Machen müssen sie schon selber"Bild: Getty Images/AFP/J. Ekstromer

Es werde keine einheitlichen Rezepte von der EU-Kommission und keine Zentralisierung der Sozialpolitik geben. Die EU könne nur Ziele und Empfehlungen aufzeigen, Aktionspläne für jedes Mitgliedsland verabschieden und überwachen. "Machen, ja machen, müssen sie schon selber", rate sie auch immer den Sozialministern aus den Mitgliedsländern, die ihr ähnliche Fragen stellen.

Angleichung der Verhältnisse als Ziel

Die EU-Kommission wolle sich auch nicht durch die Hintertür neue Kompetenzen angeln, beteuert Kommissarin Thyssen. Einige Mitgliedsstaaten hegen diesen Verdacht. Jeder Staat solle weiter selber regeln, welche Sozialleistungen er gewähre und wie er seinen Arbeitsmarkt organisiere. Das Ziel müsse aber die allmähliche Angleichung der Verhältnisse auf dem Kontinent zwischen Finnland und Zypern sein, glaubt die Sozialkommissarin.

In der Tat sind die Unterschiede nach Angaben der EU-Statistikbehörde Eurostat und einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung in Europa enorm. Der soziale Lebensstandard ist im Spitzenreiterland Luxemburg zweieinhalb Mal so hoch wie im Schlusslicht Bulgarien.

Die Arbeitslosigkeit in Tschechien liegt mit 3,8 Prozent EU-weit am niedrigsten. In Griechenland liegt sie bei weit über 20 Prozent. "Diese Lücken müssen wir schließen", will die schwedische Sozialministerin Ylva Johannson beim Gipfeltreffen an diesem Freitag fordern.

EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker hat sich zusammen mit dem schwedischen Ministerpräsidenten Stefan Löfven den Sozial-Gipfel schon vor über einem Jahr ausgedacht. Für die beiden ist die Sozialpolitik auch ein Mittel, populistische Parteien in der EU zurückzudrängen. Die Menschen, die sich nach der schweren Wirtschaftskrise von der Globalisierung abgehängt fühlten, müssten wieder zurückgewonnen werden. Und das gehe am besten durch Erfolge in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.

Jetzt, da die Wirtschaft in der Euro-Zone wieder wachse, sei dafür die beste Zeit, sagten der Christdemokrat Juncker und der Sozialdemokrat Löfven in einer Art großen Koalition vor dem Gipfel in Göteborg. Es müssten vor allem zukunftssichere Arbeitsplätze in der digitalen Wirtschaft entstehen.

Soziale Erfahrungen für die Chefs

Das Gipfeltreffen in Göteborg soll auch für die 25 Staats- und Regierungschefs, die von 28 möglichen teilnehmen werden, "sozial" ablaufen. Sie werden nicht hinter verschlossenen Türen im Sitzungssaal versteckt, sagte ein EU-Diplomat in Göteborg. Diesmal treffen sie beim Gipfel "echte" Menschen, Gewerkschafter, Unternehmer, Studenten und Vertreter von Sozialverbänden. Mit denen werden die Regierungschefs in drei Arbeitsgruppen öffentlich über die sozialen Fragen beraten.

Man wird unverbindlich und ohne Druck plauschen, denn wirkliche Beschlüsse würden ja nicht gefasst, sagte der EU-Diplomat, der das Treffen mit vorbereitet hat. Erst beim Mittagessen sind die Staats- und Regierungschefs dann unter sich und werden sich wohl mit Bildung, Kultur, der Zukunft der Union und vielleicht auch ein wenig mit dem Dauerbrenner Brexit beschäftigten. Die britische Premierministerin Theresa May ist eher überraschend angereist.

Nicht dabei ist hingegen die deutsche, derzeit nur geschäftsführende Bundeskanzlerin Angela Merkel. "Die hat wohl mit den Koalitionsverhandlungen nach der Wahl in Berlin genug und Wichtigeres zu tun", sagte ein EU-Diplomat. "Enttäuscht" sei Gastgeber und EU-Kommissionspräsident Juncker aber nicht, denn "die beiden sprechen dauernd miteinander." Es komme vor allem darauf an, dass die Bundeskanzlerin zugesagt habe, die Erklärung zum "sozialen Pfeiler" inhaltlich voll zu unterstützen. Und bald werde es in Berlin auch wieder "eine starke und stabile Regierung geben."

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union
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