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PolitikEuropa

Ratspräsidentschaft: Bürde auf Merkels Schultern

Barbara Wesel
8. Juli 2020

Die Bundeskanzlerin versuchte es emotional und bemühte Beethoven: Nach ihrer Rede vor dem Europaparlament in Brüssel wird klar, dass die deutsche EU-Ratspräsidentschaft keine leichte Aufgabe wird.

Belgien EU-Parlament Angela Merkel
Bild: picture-alliance/AP Photo/F. Seco

Angela Merkel wurde in ihrer Amtszeit als Kanzlerin immer wieder vorgeworfen, sie sei keine Europäerin aus reinem Herzen, ihr fehle die echte Leidenschaft. Also versuchte sie bei ihrer ersten Rede vor dem Europäischen Parlament nach Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft durch Deutschland einen etwas emotionaleren Ton. Europa stehe nach der Corona-Krise vor der größten Bewährungsprobe seiner Geschichte und man müsse "Europa wandeln, wenn wir es schützen und bewahren wollen". Eine Anspielung vielleicht auf das berühmte Zitat: "Alles muss sich ändern, wenn es bleiben soll wie es ist", das aus dem italienischen Roman "Der Leopard" stammt? 

"Allein kommt niemand durch"

„Ich glaube an Europa, nicht nur als Erbe der Vergangenheit, sondern als Hoffnung und Vision für die Zukunft", sagt Merkel angesichts einer Europäischen Union, die sich seit Jahren von Krise zu Krise hangelt. Sie spricht vom fehlgeschlagenen Verfassungsstreit, der Finanzkrise, der Flüchtlingsbewegung – das alles habe zu Verletzungen bei den Mitgliedsländern geführt, die man jetzt überwinden müsse. "Europa wird nach der Krise stärker sein, wenn wir den Gemeinsinn stärken. Allein kommt niemand durch."

Bundeskanzlerin mit Maske - Symbol für die Krise der EU nach CoronaBild: Reuters/Y. Herman

Immer wieder spricht sie dabei von den demokratischen Grundwerten der EU, den Werten und Rechten als gemeinsamer Basis. Niemals dürfe die Aussetzung dieser Rechte etwa wegen der Corona-Krise zur Regel werden, sagt Merkel – erkennbar ein Seitenhieb gegen Viktor Orban aus Ungarn, der nach wie vor zu ihrer Parteienfamilie, den Christdemokraten der EVP im Europaparlament gehört.

Aber was will die Kanzlerin mit ihrer Betonung der demokratischen Werte in der EU eigentlich sagen? Man weiß, dass sie befürwortet, die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit an die Auszahlung europäischer Gelder zu knüpfen. Aber sie hat das kontroverse Thema bisher nicht konsequent verfolgt, denn es stößt auf heftigen Widerstand von Ungarn und anderen. Dass sie diese Verknüpfung jetzt durchdrückt, wo die Einigung zum EU-Haushalt und Corona-Wiederaufbau-Fonds sowieso schwierig wird, ist unwahrscheinlich.

Hauptthema aber ist bei Angela Merkel der Wert der politischen und finanziellen Gemeinsamkeit: "Solidarität ist nicht nur eine humane Geste, sondern eine nachhaltige Investition. Sie ist nicht nur politisch geboten, sondern wird sich auch lohnen." Man sieht bei diesen Worten die Kanzlerin förmlich in kommenden Verhandlungsnächten an ihre Kollegen appellieren: "Jeder Kompromiss nützt euch auch national." Ihr Mantra ist, dass die Einigung über die Corona-Milliarden im eigenen Interesse aller Mitgliedsländer liegt.

Keine Zeit zu verlieren

Hinter den schönen Worten steht der knallharte Streit ums Geld. Angela Merkel lobt noch einmal den deutsch-französischen Vorschlag für einen Wiederaufbaufonds von 500 Milliarden Euro – EU-Kommission und Parlament fordern sogar 750 Milliarden. "Unser Ziel ist eine möglichst rasche Einigung" - noch in diesem Sommer, betont die Kanzlerin. Man dürfe keine Zeit verlieren, denn das würde die Schwächsten treffen. Und das erfordere von allen Seiten eine große Bereitschaft zum Kompromiss. Gleichzeitig mahnt die Kanzlerin, nicht nur die wirtschaftlich starken Staaten dürften belastet werden, man müsse auch bedenken, was die Länder politisch und gesellschaftlich leisten können.

Merkel mahnt eine schnelle Einigung beim Wiederaufbau-Fonds an - sonst würde es die Ärmsten treffen Bild: picture-alliance/AP/M. Fernandez

Der Streit um den Wiederaufbau-Fonds und den nächsten EU-Haushalt aber spiele sich vor dem Hintergrund „globaler Umbrüche" und Verschiebungen ab, mit schwierigen Nachbarn, Krisengebieten an Europas Grenzen und einem geschwächten transatlantischen Bündnis. Merkels Hinweis auf China fällt allerdings an dieser Stelle lapidar aus. Sie spricht von strategischen Beziehungen, engen Handelsbeziehungen und einem offenen Dialog. Alles Formeln für eine Fortsetzung des "business as usual" – kein Hinweis auf Hongkong oder etwa die Menschenrechtsverletzungen gegen die Uiguren. 

Beifall erhielt die Kanzlerin für ihre Bemerkung, dass die Corona-Krise die Grenzen von "fakten-leugnendem Populismus" aufzeige. "In einer Demokratie braucht man Wahrheit und Transparenz", dafür werde Deutschland  sich stark machen. Und als "Musikliebhaberin" macht sie schließlich noch einen kleinen Abstecher zu Beethovens 250. Geburtstag, der Europahymne und der Idee der Brüderlichkeit und Eintracht. Es ist nicht Angela Merkels größte Rede, aber ihre Ratspräsidentschaft wird wohl mehr an dem gemessen, was sie am Ende erreicht.

EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen ist vorrangig Europäerin, erst in zweiter Linie DeutscheBild: picture-alliance/dpa/European Commission

Ziemlich viele Deutsche…

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen versucht, sich eher von der Kanzlerin abzusetzen. Sie spricht von hohen Erwartungen an die deutsche Präsidentschaft, aber auch davon, dass man aus den Fehlern der Finanzkrise lernen müsse. Damals habe man Arbeitslosigkeit, den Absturz öffentlicher Investitionen, die Zerstörung staatlicher Programme erlebt – für viele Europäer ein traumatisierendes Erlebnis. "Das muss so nicht sein", so von der Leyen in einer klaren Absage an die Sparpolitik von gestern und mit dem Plädoyer für ein starkes Wiederaufbauprogramm. 

Jeder Satz macht es schwerer

Nach ihr kommt dann Manfred Weber als Fraktionsführer der Christdemokraten, der Merkel an ihre historische Verantwortung erinnert und sie in eine Reihe mit europäischen Gründerfiguren wie Robert Schuman und Konrad Adenauer stellt. Die Bürde auf ihren Schultern schien mit jedem Satz schwerer zu werden. Freundliche Worte gibt es dann von der Grünen-Vorsitzenden Ska Keller, die Merkels Versprechen im Kampf gegen den Klimawandel begrüßt, die Latte dabei nur noch etwas höher legen will. Auch die Beschimpfungen von Rechts kamen von einem Deutschen, dem AfD-Chef Jörg Meuthen in seiner Funktion als Europaabgeordneter. Und die übliche harsche Kritik der Linken wurde von Martin Schirdewan vorgetragen. Ein Deutscher. 

Wird so viel deutsche Präsenz als Bedrohung angesehen? Was die Ratspräsidentschaft angeht, dürfte - außer bei den Rechtspopulisten - eher die hohe Erwartung an Angela Merkels Erfahrung und politische Fähigkeiten vorherrschen. In der gegenwärtigen tiefen Krise scheint es vielen besser, wenn ein starkes Land am Steuer sitzt, um die EU durch die nächsten sechs Monate zu lenken. Fehler und Versagen sind unter diesen Umständen nicht vorgesehen. Alle erwarten jetzt von Angela Merkel: alles.