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Politik

Rechtsstaatsstreit: Sieg für Polen und Ungarn?

11. Dezember 2020

Die Regierungschefs von Ungarn und Polen sehen sich als Sieger im Konflikt um den EU-Haushalt. Von den Oppositionsparteien in beiden Ländern kommt harsche Kritik.

EU ringt um Finanzpaket I M. Morawiecki -und V. Orban
Polens Premier Mateusz Morawiecki (l.) und sein ungarischer Amtskollege Viktor Orbán in BrüsselBild: Francois Lenoir/Pool/File Photo/Reuters

Wochenlang hatten die Regierungen Polens und Ungarns hoch gepokert. Ihre Zustimmung zum kommenden EU-Haushalt wollten sie nur geben, wenn der daran geknüpfte Rechtsstaatsmechanismus fallen gelassen werden würde.

Erreicht haben sie das nicht. Angesichts eines drohenden Verlustes von EU-Förder- und Corona-Hilfsgeldern stimmten beide Mitgliedstaaten gestern schließlich einem Kompromiss der deutschen EU-Ratspräsidentschaft zu. Der sieht vor, dass erst einmal der Europäische Gerichtshof über den Mechanismus urteilen soll, bevor er angewendet wird. Verhindert ist er damit wohl nicht, sondern wahrscheinlich nur verzögert.

Ungarns Premier Viktor Orbán in Brüssel beim EU-Gipfel im Juli 2020Bild: picture-alliance/dpa/AFP Pool/J. Thys

Dennoch erklären sich Polens und Ungarns Regierungschefs nun zu den Gewinnern des Rechtsstaatsstreits. Besonders groß ist dabei der Jubel von Ungarns Premier Viktor Orbán. "Wir haben gesiegt", erklärte der noch am Donnerstagabend in Brüssel in zwei Facebook-Videos. "Wir haben Ungarns Interessen verteidigt, der D-Day war ein Erfolg, die Landung ist geglückt."

Weniger plakativ, aber dennoch ebenfalls zufrieden äußerte sich Polens Premier Mateusz Morawiecki. Durch sehr genaue Kriterien der Bedingungen zur Anwendung sei der Rechtsstaatsmechanismus begrenzt worden, so der polnische Regierungschef in Brüssel. Allein die Feststellung, dass es Probleme mit der so genannten Rechtsstaatlichkeit gebe, reiche für die Anwendung des Mechanismus nicht aus.

Brüssel ohne Waffen

Auch die regierungsnahen Medien in Polen und Ungarn erklären ihre Länder zu den Gewinnern im Konflikt um den EU-Haushalt. "Ungarischer und polnischer Sieg, Vereinbarung ein großer Erfolg", titelte beispielsweise "Magyar Nemzet", das quasiamtliche Sprachrohr der ungarischen Regierung. Das regierungsnahe Portal Origo schrieb: "Brüssel kann Ungarn nicht mit Geld erpressen, sie können keine neue Waffe gegen uns einsetzen."

Borys Budka, der Vorsitzende der polnischen Oppositionspartei "Bürgerplattform" (PO), spricht im Parlament in WarschauBild: picture-alliance/NurPhoto/M. Wlodarczyk

Oppositionspolitiker in beiden Ländern äußerten sich hingegen geradezu vernichtend über das Vorgehen ihrer Regierungen im Streit mit der EU - und über dessen Ergebnis. Borys Budka, der Vorsitzende der größten polnischen Oppositionspartei "Bürgerplattform" (PO) sagte, Premier Morawiecki habe "nichts Reales für Polen erkämpft, wie etwa mehr Geld, zusätzliche Fonds, sondern nur erreicht, dass der Unmut wegen dieser Regierung, der Unmut gegenüber Polen in Europa allgegenwärtig ist".

Summe von Scheinkonflikten

Auch in Ungarn spricht die Opposition von einem Misserfolg und einer "totalen Pleite" von Orbáns Strategie im Rechtsstaatsstreit. "Was Viktor Orbán allen als Sieg verkauft, ist in Wirklichkeit eine Summe von Scheinkonflikten", schreibt die Europa-Abgeordnete Anna Donáth von der liberalen Jugendpartei "Momentum". Beispielsweise sei es, anders als Orbán es darstelle, im Rechtsstaatsmechanismus nie um Migrations- und Familienpolitik gegangen.

Zbigniew Ziobro, Polens Justizminister und Vorsitzender der Partei "Solidarisches Polen" (Solidarna Polska)Bild: picture-alliance/NurPhoto/M. Wlodarczyk

Während Orbán und seine Partei Fidesz in Ungarn nach dem Brüsseler Kompromiss lediglich kritische Äußerungen der Opposition zu hören bekommen, zeichnet sich in Polen eine neue Koalitions- und Regierungskrise ab. Zbigniew Ziobro, polnischer Justizminister und Vorsitzender der Partei "Solidarisches Polen" (Solidarna Polska), einer der beiden kleinen Koalitionspartner der regierenden Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS), kritisiert, dass der ausgehandelte Kompromiss nicht rechtlich bindend, sondern lediglich eine politische Stellungnahme sei. Die Verordnung werde "die Möglichkeit schaffen, die polnische Souveränität beträchtlich einzuschränken".

Krach in Polens Regierungskoalition

Damit bahnt sich eine neue Episode im Machtkampf innerhalb der polnischen Regierungskoalition an. Erst im Spätsommer hatte der erzkonservative Justizminister eine Koalitionskrise provoziert. Hintergrund war damals und ist auch diesmal die Rivalität zwischen dem nationalistischen Hardliner Ziobro und dem eher gemäßigten Premier Morawiecki um die langfristige Nachfolge für den PiS-Chef Jarosław Kaczyński.

Jarosław Kaczyński, PiS-Chef und Vize-Ministerpräsident (l.), mit Premier Mateusz MorawieckiBild: Hubert Mathis/ZUMA Wire/picture-alliance

Kommentatoren unabhängiger Medien in Polen und Ungarn analysieren unterdessen, wer nun der tatsächliche Gewinner im Rechtsstaatsstreit ist. Viele machen ihn in Orbán aus - erklären seinen Sieg allerdings anders als der Premier selbst. "Bei dem Kompromiss haben alle ein bisschen gewonnen und am ehesten Orbán", schreibt das ungarische Portal 24.hu. Für Orbán sei wichtig gewesen, bis zur Wahl 2022 keine EU-Gelder zu verlieren, da andernfalls sein Wahlsieg in Gefahr geraten könne. Deutschland hingegen sei an Rechtsstaatlichkeit nur solange interessiert, wie diese das Funktionieren der Wirtschaft nicht beeinträchtige.

Rekordzahl von EU-Befürwortern

Auch die "Gazeta Wyborcza" sieht in erster Linie Orbán als Sieger. Ungarns Premier ist für die polnische Zeitung "ein Mensch, der an der Spitze eines korrupten Systems steht, das von Oligarchen unterstützt wird, die sich von EU-Subventionen ernähren." Durch die mit dem EU-Kompromiss erreichte Verzögerung der Anwendung des Rechtsstaatsmechanismus habe Orbán nun genügend Zeit, sich auf die nächste Wahl vorzubereiten.

Protest gegen die Politik Viktor Orbáns bei einem Besuch des ungarischen Premiers in PolenBild: Czarek Sokolowski/AP/dpa/picture alliance

Am überraschendsten ist am Ende des langwierigen Rechtsstaatsstreits dessen Wirkung auf die Öffentlichkeit Polens und Ungarns. In beiden Ländern schlagen die Regierungparteien immer aggressivere antieuropäische Töne an, der Konflikt wurde zu einer Überlebensfrage der beiden Nationen stilisiert. Viktor Orbán versuchte seinen Wählern sogar indirekt, den "Hungexit" schmackhaft zu machen, als er erklärte, wie schnell und effektiv Brexit-Großbritannien die Corona-Pandemie bekämpfen könnte und wie schwerfällig dagegen die EU sei.

Bei den meisten Menschen in beiden Ländern bewirken solche Reden jedoch offenbar das Gegenteil von dem, was beabsichtigt ist. Sowohl in Polen als auch in Ungarn ist die Zahl derer, die eine weitere EU-Mitgliedschaft ihrer Länder befürworten, in den vergangenen Monaten auf ein Rekordniveau gestiegen: In Polen sind 87 Prozent der Befragten für Europa, in Ungarn 85 Prozent.

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