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Politik

Europa setzt auf Kooperation à la carte

6. März 2017

Frankreich, Deutschland, Spanien und Italien wollen vorangehen. Bei ihrem Mini-Gipfel in Versailles schmieden sie den Plan für ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Bernd Riegert berichtet.

Gipfeltreffen Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien in Versailles | Hollande & Merkel
Routnierte Harmonie: Hollande (li.) und Merkel beim Mini-Gipfel in VersaillesBild: Reuters/C. Hartmann

Man müsse sich das künftige Konzept der EU wie die Speisekarte in einen Restaurant vorstellen, versuchte ein EU-Diplomat in Versailles die Gipfel-Gespräche zu erläutern. "Jeder sucht sich aus, was ihm schmeckt, und was er verdauen kann."

Die EU-Staaten sollen sich in Zukunft aussuchen können, auf welchen Politikfeldern sie mit anderen eng oder weniger eng zusammenarbeiten wollen. Verschiedene Staatengruppen oder "Koalitionen der Willigen" sollen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit vorangehen.

Grundsätzlich könne jeder der 27 EU-Staaten mitmachen, niemand werde aber durch Mehrheitsbeschlüsse gezwungen. Bei kleineren und bei eher national eingestellten osteuropäischen Staaten führte dieses Konzept bislang eher zu Bedenken, man könne abgehängt werden.

Unterschiedliche Geschwindigkeiten 

"Lange Zeit hat die Idee eines differenzierten Europas, eines Europas unterschiedlicher Geschwindigkeiten, viele Widerstände erregt. Aber heute ist es eine Idee, die sich aufdrängt. Sonst explodiert Europa", sagte der Gastgeber des Vierer-Gipfels, Frankreichs Staatspräsident François Hollande, in einem Interview mit europäischen Zeitungen.

Noch einmal ein wenig glänzen: der scheidende Präsident Hollande in VersaillesBild: Getty Images/AFP/M. Bureau

Die drei Teilnehmer, Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel, Italiens Übergangspremier Paolo Genitloni, Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy und Gastgeber Hollande waren sich in Versailles einig, dass das Konzept des "differenzierten Europas" einen Ausweg aus der Sinnkrise der Union weisen kann. "Wir müssen den Mut haben, dass einige vorangehen", sagte Merkel in Versailles. "Unterschiedliche Geschwindigkeiten sind notwendig." Niemand solle zu etwas gezwungen werden.

Streitfall Asylpolitik

Der geplante Ausstieg der Briten aus der EU hat die Krisezusätzlich verschärft. Es gab sie aber schon vorher, meinen EU-Diplomaten. Spätestens seitdem sich osteuropäische Staaten weigerten, im Herbst 2015 gefasste Mehrheitsbeschlüsse zur Verteilung von Flüchtlingen auch umzusetzen, sei klar, dass die EU an ihre Grenzen stoße.

Diese Blockade will der scheidende französische Präsident François Hollande nun lösen. Die EU müsse vor allem schneller und effizienter werden. "Europa handelt meist richtig, aber zu spät, immer zu spät", so Hollande. Er beklagte, jedes Land verfolge nur seine unmittelbaren Interessen. Die EU brauche einen neuen Geist, sonst werde sie verwässern und schließlich untergehen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht es ähnlich wie Hollande. "Wir sind in einer schwierigen und nervösen Phase", bekannte Merkel. "Die EU ist ein Friedenswerk. Dieses Friedenswerk kann schneller in Gefahr geraten, als man denkt." Der italienische Ministerpräsident drängte auf eine gemeinsame Asylpolitik. Das Thema Migration müssen von allen 27 EU-Staaten angegangen werden.

EU-Battlegroup: Beim Thema Verteidigung will die EU künftig stärker zusammenarbeitenBild: picture alliance/APA/picturedesk.com

Schwerpunkt Verteidigung

Als erstes großes gemeinsames Projekt einer Koalition der Willigen soll die Verteidigungspolitik dienen. Nach dem Ausscheiden Großbritanniens, das bislang erheblichen Widerstand leistete, wollen die meisten EU-Staaten ihre Verteidigungspolitik besser koordinieren, ein gemeinsames Hauptquartier einrichten.

Die Schaffung einer europäischen Armee, die als Konkurrenz zur Militärallianz NATO mit den USA und Kanada missverstanden werden könnte, will man aber nicht, bestätigen EU-Diplomaten. Auch der Präsident der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, hat in einem "Weißbuch" in der vergangenen Woche die Verteidigung und Sicherheitspolitik als erstes Projekt eines differenzierten Europas hervorgehoben. Darauf könnten sich wohl die meisten der 27 EU-Mitglieder noch verständigen. Die Bedrohung durch Russland und den internationalen Terrorismus sowie die neue isolationistische Haltung der Trump-Regierung in den USA würden eine europäische Antwort fordern.

Der verteidigungspolitische Sprecher der konservativen EVP-Fraktion im Europäischen Parlament, Michael Gahler, sieht die EU auf dem Weg in eine "Verteidigungs-Union". "Die Staaten, die willig sind, können das bereits mit qualifizierter Mehrheit beschließen, ohne die Lissabonner Grundlagenverträge ändern zu müssen", erklärte Gahler in Brüssel. Zumindest die gemeinsame Finanzierung von Rüstungsprojekten und Militäroperationen ließe sich schnell beschließen.

Kritik aus Warschau

Beim bevorstehenden Geburtstags-Gipfel der EU in Rom Ende März wollen Hollande und Merkel die übrigen Staats- und Regierungschefs überzeugen, aus der bisherigen Ausnahme die Regel zu machen. Eigentlich sollte bis zum Gipfeltreffen anlässlich der Unterzeichnung der "Römischen Verträge" zur Gründung der damaligen Europäischen Gemeinschaft vor 60 Jahren ein Konzept bereits fertig sein. Das hatte die EU im Sommer 2016 nach dem Brexit-Referendum beschlossen.

Doch dieser Zeitplan gilt nun nicht mehr. Jetzt soll eine richtige Diskussion erst beginnen und bis zum Ende des Jahres abgeschlossen werden. Es gibt Widerstand, allen voran von den vier "Visegrad"-Staaten, Polen, Tschechien, Ungarn und der Slowakei.

Die polnische Ministerpräsidenting Beata Szydlo forderte vergangene Woche, die EU müsse in Rom mit einem konkreten Reformprojekt auftreten. Man brauche nicht mehr oder weniger, sondern ein besseres Europa. Niemand dürfe durch unterschiedliche Geschwindigkeiten ausgeschlossen werden. Die nationalen Regierungen sollten bei den Entscheidungen in der EU gestärkt werden, verlangte die polnische Regierungschefin.

Sie war, obwohl sie das fünftgrößte Land der EU führt, nicht nach Paris eingeladen worden. Wohl aus Verärgerung darüber, dass Polen eine erneute Amtszeit des EU-Ratspräsidenten Donald Tusk torpediert, vermuten EU-Diplomaten in Versailles. Der Pole Tusk gehört der heutigen Oppositionspartei in Polen an, wird aber von Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Hollande sowie der Mehrheit der EU-Mitglieder gestützt. Außerdem führt die EU ein Verfahren gegen Polen, weil dort rechtsstaatliche Grundsätze missachtet werden.

Auf den Spuren des Sonnenkönigs

04:42

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"Die letzte Pflicht"

Präsident Hollande bemühte sich, ungeachtet der Krisenstimmung in der EU in dem prächtigen Schloss noch ein letztes Mal in seiner Amtszeit ein wenig Glanz zu verbreiten. Außerdem will er unbedingt verhindern, dass EU-Gegnerin Marine Le Pen die anstehenden Präsidentschaftswahlen gewinnt.

"Es ist meine letzte Pflicht, alles zu tun, damit Frankreich nicht eine derartig schwere Verantwortung auf sich lädt", sagte Hollande in einem Zeitungsinterview. Le Pen würde aus der Gemeinschaftswährung Euro und vielleicht sogar aus der EU austreten. Die Gefahr bestehe, dass dies das Todesurteil für Europa wäre.

Versailles, wo das Ende des Ersten Weltkrieges besiegelt wurde, sei ein ganz besonders symbolischer Ort, sagte Hollande. "Vor 100 Jahren war die europäische Einheit noch ein ferner Traum, erst nach dem zweiten Weltkrieg wurde sie Realität. Diese Perspektive eint."

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union