1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikNahost

Haben Sanktionen Erdbeben-Hilfe in Syrien verhindert?

Cathrin Schaer dh
23. Februar 2023

Seit dem schweren Erdbeben in der Südtürkei und im Norden Syriens werden die Aufrufe zur Aufhebung der Sanktionen gegen Syrien in den sozialen Medien immer lauter. Aber sind diese Aufrufe gerechtfertigt?

Syrien | Humanitäre Hilfe für Erdbebenopfer
Dieser Mann sitzt vor den Trümmern seines Hauses im syrischen DschinderesBild: Aaref Watad/AFP/Getty Images

Die junge Syrerin hat Tränen in den Augen. "Wir haben keinen Strom, wir haben kein Gas, wir haben nichts", schreit sie wütend in die Kamera. "Und dann kam das Erdbeben. Kein Mensch hat versucht, uns zu helfen. Lasst euch von den Medien nicht täuschen", fleht sie und hält dabei eine Grafik des Luftraums über Syrien in die Kamera.

Auf der Grafik ist zu sehen, dass einen Tag nach dem verheerenden Erdbeben, das am 6. Februar den Norden Syriens und den Südosten der Türkei erschütterte, keine Flugzeuge mit Hilfsgütern für die Überlebenden in ihrer Heimat gelandet sind.

Syrien braucht Hilfe, betont die junge Frau in ihrem Video eindringlich. Sie stellt sich als Patricia, eine Studentin aus Damaskus, vor.

Das TikTok-Video mit der Luftverkehrsgrafik hat seither über fünf Millionen Aufrufe und mehr als 240.000 meist wohlwollende Kommentare bekommen. Die Grafik war allerdings bereits vor Patricias Video auf sämtlichen Social-Media-Plattformen viral gegangen, meist mit dem Hashtag #StopSanctionsOnSyria oder einer Variation dessen versehen.

Verzögern Sanktionen Hilfe?

Dieses weit verbreitete TikTok-Video ist ein gutes Beispiel dafür, wie viele Fragen und Emotionen das Thema Sanktionen gegen Syrien umgeben. Da die Frustration über die Verzögerungen beim Eintreffen von Hilfsgütern und Ausrüstung in den erdbebengeschädigten Gebieten Syriens immer größer wurde, haben viele Beobachter die Frage in den Raum gestellt, ob die Sanktionen für die Verzögerung der Hilfen mitverantwortlich sind. Einige wollen wissen, wie sie helfen können. Andere sagen, dass das autoritäre syrische Regime von Diktator Bashar Assad die Naturkatastrophe zynisch für seine Zwecke ausnutze.

Forscher des Syrian Archive, das mit Hilfe von Online-Verifizierungen Kriegsverbrechen in Syrien verfolgt und dokumentiert, haben nach dem Erdbeben eine Zunahme von Hashtags beobachtet, die sich auf die Sanktionen gegen Syrien beziehen. "Aber es gibt keine Gewissheit darüber, ob diese Hashtags absichtlich (Anm. d. Redaktion: und damit Teil einer von der Regierung gesponserten Kampagne) oder organisch entstanden sind", so ein Sprecher des Syrian Archive gegenüber der DW. "Der allgemeine Wunsch zu helfen hat dazu geführt, dass sich viele Menschen daran beteiligt haben. Aber es ist auch klar, dass diese Art von Kampagne von der syrischen Regierung begrüßt wird."

Syrien: Hilfslieferungen laufen schleppend an

02:47

This browser does not support the video element.

"Das Regime und seine Unterstützer nutzen das Erdbeben als Vorwand, um die Aufhebung aller Sanktionen gegen Syrien zu fordern", sagte Andrew Tabler, Senior Fellow und Syrien-Experte beim US-Thinktank Washington Institute, der DW. Dabei ist das am stärksten vom Erdbeben betroffene Gebiet im Nordwesten Syriens eigentlich nicht von den Sanktionen betroffen – und dennoch haben die Menschen dort vermutlich den höchsten Preis für die Verzögerung in Sachen Hilfe bezahlt.

"Diese Gebiete werden seit über einem Jahrzehnt nicht mehr vom Assad-Regime kontrolliert", so Tabler. Sie stehen überwiegend unter der Kontrolle islamistischer Milizen der Gruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS), die wiederum aus der Al-Nusra-Front hervorgegangen ist.

Fehlender Kontext

In ihrem Video erwähnt Patricia auch nicht das überarbeitete Gesetz zur Cyberkriminalität, das die syrische Regierung im April 2022 eingeführt hatte. Dadurch ist es für Syrerinnen und Syrer noch gefährlicher geworden, Kritik an der syrischen Regierung im Internet zu posten. Diese Art von Kontext fehlt bei vielen Inhalten in den sozialen Medien. In ihrem TikTok-Video spricht Patricia aus Damaskus zum Beispiel auch nicht darüber, warum es überhaupt internationale Sanktionen gegen Syrien gibt.

Nachdem das Assad-Regime durch die brutale Niederschlagung friedlicher Demonstrationen für Freiheit und Demokratie 2011 einen Krieg ausgelöst hatte, verhängten die EU und die USA Sanktionen gegen Damaskus. Zwölf Jahre später will die syrische Regierung, die nun wieder einen Großteil des Landes kontrolliert, ihr Image aufpolieren und erneut Zugang zu den internationalen Märkten erhalten.

Die Luftverkehrsgrafik, die Patricia und viele andere online geteilt haben, ist teilweise irreführend. Als Folge des Krieges ist der Luftraum über Syrien bereits seit 2015 für die meisten zivilen Fluggesellschaften gesperrt. Der Luftverkehr über Syrien sieht fast jeden Tag gleich aus, ob Erdbebenhilfe ankommt oder nicht.

In Nordsyrien haben die unzureichend ausgerüsteten lokalen Freiwilligen, die Weißhelme, die Suche und Rettung der Opfer alleine gestemmtBild: K. Rammah/AA/picture alliance

Die Auswirkungen der Sanktionen auf Syrien

Zahlreiche Regierungen, die Sanktionen gegen Syrien verhängt haben, betonen, dass humanitäre Hilfe schon immer von den Sanktionen ausgenommen war.

"Ich weise die Anschuldigungen, dass EU-Sanktionen Auswirkungen auf die humanitäre Hilfe haben, kategorisch zurück", sagte der slowenische EU-Kommissar für Krisenmanagement, Janez Lenarcic, kurz nach dem Erdbeben.

Auch das deutsche Auswärtige Amt betonte, dass die Sanktionen niemals humanitäre Hilfe betrafen, nicht einmal schwere Maschinen, die zur Beseitigung von Trümmern eingesetzt werden könnten.

"Fallen Sie nicht auf das Narrativ herein, das von bestimmten Akteuren verbreitet wird, die in diesen sehr schwierigen Zeiten versuchen, ihre eigenen Interessen durchzusetzen", warnte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes kürzlich auf einer Pressekonferenz. "Die derzeitige katastrophale Situation wird politisch ausgenutzt."

Sanktionen in einer Grauzone

"Ich stelle nicht in Frage, dass Sanktionen negative Auswirkungen auf die Menschenrechte haben", sagte Karam Shaar, politischer Ökonom und Experte für Syriensanktionen. "Niemand kann das abstreiten. Aber wir sollten auch über den Kontext und den Rest der Geschichte sprechen."

Die syrische Regierung unter Diktator Baschar al-Assad besteht darauf, dass alle humanitäre Hilfe über Damaskus abgewickelt wird. Grenzüberschreitende Hilfe für den Nordwesten Syriens wurde in den letzten Jahren politische Verhandlungsmasse, wobei Russland seinen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat nutzt, um das Assad-Regime zu unterstützen und Zugeständnisse anderer Sicherheitsrats-Mitglieder zu erpressen. Seit 2020 gestattet der UN-Sicherheitsrat aufgrund dieses Drucks den Transport von Hilfen nur über einen türkisch-syrischen Grenzübergang. Zwei weitere Übergänge wurden erst gut eine Woche nach dem Beben für die humanitäre Hilfe geöffnet. Dazu kommt: Eines der größten Probleme für viele Syrer innerhalb und außerhalb des Landes sei beispielsweise das Problem, Geld nach Syrien und aus Syrien zu schicken. Die Sanktionen sollen das Assad-Regime vom internationalen Bankverkehr abschneiden, aber in der Praxis haben sie auch das Leben der syrischen Bürger erschwert.

Zwei weitere Grenzübergänge von der Türkei nach Nordsyrien wurden erst über eine Woche nach dem Erdbeben geöffnetBild: Rami Alsayed/NurPhoto/picture alliance

Am 9. Februar, kurz nach dem Erdbeben, hat die US-Regierung die sogenannte General License 23 erlassen, die "für 180 Tage alle Transaktionen im Zusammenhang mit der Erdbebenhilfe erlaubt, die andernfalls durch die syrischen Sanktionsbestimmungen verboten wären".

In dieser Woche erklärte das US-Handelsministerium außerdem, dass es dabei helfen werde, Ausfuhren nach Syrien zu beschleunigen, die bei Wiederaufbaumaßnahmen hilfreich sein könnten. Dazu gehören unter anderem Telekommunikations- und medizinische Ausrüstung, tragbare Generatoren und Geräte zur Wasseraufbereitung oder Abwasserentsorgung.

Am 15. Februar gab es auch aus Großbritannien zwei neue Erlasse. "Die Sanktionen des Vereinigten Königreichs richten sich nicht gegen humanitäre Hilfe, Lebensmittel oder medizinische Versorgung", so die britische Regierung. Sie erkenne allerdings an, dass einige Aspekte der Sanktionen in einer Krise Probleme bereiten könnten. Die neuen Erlasse würden es Hilfsorganisationen erleichtern, in Syrien zu arbeiten, ohne gegen die Sanktionen zu verstoßen, die sich gegen das Assad-Regime richten.

Mehreren Berichten zufolge haben die EU-Mitgliedstaaten ebenfalls über vorübergehende Änderungen der Sanktionen diskutiert.

Seit dem Erdbeben vom 6. Februar wächst die Verärgerung über das verspätete Eintreffen der Hilfsgüter in NordsyrienBild: Omar Haj Kadour/AFP/Getty Images

Sanktionen genauer im Auge behalten

Die Experten Shaar und Tabler, aber auch andere Analysten sind sich einig, dass Sanktionen und Ausnahmeregelungen stärker überwacht und regelmäßig evaluiert werden müssen.

"Das Problem sind nicht die Sanktionen als politisches Instrument, sondern die Art und Weise, wie sie in Syrien und anderen Ländern umgesetzt werden, und der Mangel an Ressourcen, um sie wirksam zu machen", argumentierte Shaar in einem Beitrag für den Thinktank Atlantic Council im Januar.

Wenn die neue US-Ausnahmegenehmigung General License 23 nicht sorgfältig evaluiert werde, könne das zu Problemen führe, so Tabler. Sie gelte für sechs Monate statt der üblichen drei, und die Definition von "Erdbebenhilfe" sei sehr weit gefasst.

"Das Assad-Regime hatte bisher eine schreckliche Bilanz bei der Umleitung von Hilfsgeldern", so Tabler im Gespräch mit der DW. "Ich weiß, welche unbeabsichtigten Auswirkungen Sanktionen haben können, und ich weiß auch, dass die Menschen leiden und wir ihnen helfen müssen. Aber eine derartige Öffnung ermöglicht Missbrauch", erklärte der ehemalige Sonderberater des US-Außenministeriums für Syrien.

Tabler schlägt daher vor, die Erdbebenschäden und den Wiederaufbaubedarf sorgfältig zu prüfen und dann sicherzustellen. Die neu ermöglichten Geldströme nach Syrien sollten dann tatsächlich in diese Richtung fließen und nicht von der Assad-Regierung abgeschöpft werden, die sich damit entweder bereichern oder weitere Angriffe auf ihre Gegner finanzieren könnte.

Die Länder, die Sanktionen verhängen, verfügen über die Technologie und die Fähigkeit, diese Art der Überwachung durchzuführen, so Tabler. "Die Frage ist jedoch, ob der politische Wille existiert.”