Schöne Worte in Brdo
6. Oktober 2021Die slowenischen Gastgeber hatten auf der grünen Wiese eine kleine Zeltstadt für das Gipfeltreffen mit den Westbalkanländern aufgebaut. Premier Janez Jansa wollte sich hier profulieren und hoffte auf einen politischen Erfolg. Aber die Sitzung vor schöner Bergkulisse versank im Dauerregen. "Wie Woodstock, nur ohne Sex und Rock'n Roll", so scherzten Journalisten. Der Weg zu den Pressekonferenzen wurde für sie zum Schlammbad und die Stimmung war mehr feucht als fröhlich. Aus Jansas hochgestecktem Ziel, die EU auf ein Beitrittsdatum 2030 zu verpflichten, wurde dann auch nichts. Es blieb bei allgemeinen Beschwörungen, nach dem Motto: Der Westbalkan gehört im Prinzip zur Familie, aber wir brauchen mehr Zeit.
Geopolitik siegt über Skepsis
Der lettische Premier Krisjanis Karins brachte es am Morgen auf den Punkt: "Entweder streckt Europa seine Hand aus oder andere werden es tun." Damit meinte er Versuche von China, Russland oder der Türkei, in den Westbalkanländern über Investitionen und politische Initiativen Fuß zu fassen. Die sechs Länder hätten noch einen längeren Weg vor sich, so Karins, aber der Beitrittsprozess müsse vorangetrieben werden.
Auch Angela Merkel, die jetzt wohl nur noch ein, zwei weitere EU-Gipfel bis zur Bildung einer neuen Bundesregierung vor sich hat, machte den Grundsatz noch einmal deutlich: "Wir tun ihnen keinen Gefallen, es ist unser Kerninteresse", den Westbalkan in die EU aufzunehmen. Alle hätten das in der großen Runde bestätigt, die Europäer müssten und würden sich an ihre Zusagen halten.
Am Morgen hatte sie sich noch mit dem französischen Präsidenten bemüht, in bilateralen Gesprächen einige der internen Hindernisse abzuräumen. Im Gespräch mit Vertretern Serbiens und des Kosovos stellten Merkel und Emmanuel Macron erfolglos wirtschaftliche Anreize in Aussicht, damit die beiden Länder ihren Zwist überwinden. Die Kanzlerin und der Präsident nahmen es sogar auf sich, mit Bulgarien zu verhandeln, um den Sprachenstreit mit Nordmazedonien und die jahrelange Blockade der Beitrittsgespräche zu lösen. Die Vertreter aus Sofia winkten ab: Als Übergangsregierung seien sie machtlos.
Einen Zeitrahmen für die Erweiterungsrunde zu beschließen, hält die Bundeskanzlerin dagegen für Unsinn. Ihr sei bewusst, dass seit zwei Jahrzehnten über den Beitritt des Westbalkans geredet werde, aber "es liegt noch einiges vor uns". Länder wie Montenegro dagegen, deren Reformen vorangeschritten seien, sollten nicht durch ein festes Datum aufgehalten werden. Und andere müssten eben ihre Reformen vorantreiben, vor allem bei Rechtstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung, um die Aufnahmebedingungen endlich zu erfüllen.
"Europa ist unser Schicksal", erklärte Kosovos Regierungschef Albin Kurti zu Beginn des Treffens. Jetzt sei es kritisch, dass die EU sich auch an ihre Versprechen halte, sagt er und forderte mehr Mut. Aber aus einem großen historischen Sprung wird nichts, solange sein Land von EU-Mitgliedern wie Spanien und anderen nicht einmal anerkannt wird. Von allen Anwärtern dürfte Kosovo derzeit noch am weitesten von der sogenannten "Beitrittsreife" entfernt sein.
Beitrittsskeptiker auf dem Rückzug
Hatten die Niederlande lange zu den größten Erweiterungsgegnern in der EU gehört, gab sich Premier Mark Rutte in Slowenien ungewohnt aufgeschlossen. Er hoffe, dass die Gespräche mit Nordmazedonien bald beginnen könnten, er habe den bulgarischen Präsidenten beschworen, die Blockade aufzugeben. Abgesehen davon aber müssten die Beitrittsverhandlungen strikt, fair und an Kriterien orientiert sein.
Damit öffnet er zumindest die Tür für deren Beginn. Zwar mache er sich Sorgen "um die Rechtstaatlichkeit in mehreren Ländern", aber es sei Sache der EU-Kommission, sie zu bewerten. Man weiß, dass Rutte damit besonders Albanien meint und den unzureichenden Kampf gegen die organisierte Kriminalität im Land. Die Niederlande leiden seit Jahren unter der Ausbreitung albanischer Drogengangs.
Auch der französische Präsident rückte von seiner früheren Skepsis gegen die Aufnahme der Westbalkanländer ab. "Wir hatten eine sehr gute Diskussion", sagte Macron, auch wenn es interne Komplikationen zwischen einigen Ländern wie Serbien und Kosovo gebe. Deshalb sei es so wichtig, den Ländern kurzfristige Perspektiven zu geben. "Wir sehen, wie Geschichte sich wiederholt und starke Spannungen entstehen."
Macron betont die Bedeutung der angekündigten EU-Investitionen. Die Kommission will in den nächsten Jahren 9 Milliarden an Zuschüssen vergeben und weitere 30 Milliarden private Investitionen anziehen, um die wirtschaftliche Lage auf dem westlichen Balkan zu verbessern. Derzeit beträgt dessen Wirtschaftsleistung nur ein Porzent des EU-Bruttoinlandsproduktes. Der französische Präsident wies auch darauf hin, dass die EU selbst noch nicht bereit sei, weitere Mitglieder aufzunehmen - ein Thema, das er in der Vergangenheit als größtes Hindernis ansah. Man müsse die Funktionsweise der EU reformieren, schließlich sei die Arbeit schon zu 27 sehr schwierig.
Am Ende gab es eine Art politische Umarmung für die Westbalkanländer und die Zusicherung, dass sie eigentlich zur Familie gehörten, wenn sie nur schnellere und bessere Reformen umsetzen könnten. Ob das ausreicht, zusammen mit der Geldspritze aus Brüssel, Absetzbewegungen wie etwa in Serbien in Richtung Russland zu stoppen, muss sich zeigen.
Strategische Autonomie und die Gaspreise
Bei ihrem Essen am Vorabend hatten die Regierungschefs übers große Ganze geredet: Das Verhältnis zu China und den USA, Afghanistan und was sonst geopolitisch derzeit auf dem Teller liegt. Einmal mehr wurde klar, wie weit die Mitgliedsländer bei ihren Einschätzungen auseinanderliegen, etwa beim transatlantischen Verhältnis oder der gemeinsamen Verteidigung. Präsident Macron will bis zum Frühjahr eine Grundsatzerklärung über mehr strategische Autonomie in Europa verabschieden lassen. Es dürfte am Ende aber weniger auf große Sprünge als ein paar kleine Schritte hinauslaufen, etwa für mehr gemeinsame Datenspeicherung oder Medizintechnik in der EU.
Wie wenig Einigkeit es in der EU-27 gibt, zeigte sich auch bei der Debatte über die gestiegenen Gaspreise, die in Brdo am Rande auftauchte. Die Bundeskanzlerin warnte, es gebe "keine einfache Lösung". Spaniens Regierungschef Pedro Sanchez aber will, dass die EU-Kommission für willige Länder gemeinsam Gas einkaufen solle und verlangte nach einer europäischen Antwort auf die Krise.
Mark Rutte aus den Niederlanden wiederum lehnte das ab und meinte, das könnten die Mitgliedsländer selbst besser. Und Viktor Orban aus Ungarn behauptete sogar, die Gaspreise seien ein Resultat des Green Deal der EU, der die Haushalte belasten würde. Der Preisanstieg sei ein globales Phänomen, verteidigte dagegen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Klimapolitik. Die Debatte geht derzeit ungeordnet durcheinander. In der nächsten Woche will die Kommission ein Grundlagenpapier vorlegen, Anfang Dezember dann Vorschläge für konstruktive Maßnahmen, etwa europäische Gasspeicher. Das Thema des nächsten EU-Gipfeltreffens ist bereits bekannt: Es heißt Energiesicherheit.