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PolitikEuropa

EU sagt Nachbarn Afghanistans Hilfe zu

31. August 2021

Ortskräfte aufnehmen, aber sonstige Flüchtlinge aus der EU fernhalten - das ist das Rezept, das sich die EU-Innenminister für Afghanistan zurechtlegen. Konkrete Zahlen gibt es noch nicht. Aus Brüssel Bernd Riegert.

Afghanistan-Pakistan | Grenze
Auf dem Weg ins Nachbarland Pakistan: Flüchtlinge sollen nach Meinung der EU dort versorgt werdenBild: Jafar Khan/AP Photo/picture alliance

Wie viele Menschen aus Afghanistan herausgeholt werden müssen und wie viele Afghanen ihr Land verlassen wollen, können auch die Innenminister der Europäischen Union nur schwer schätzen. Allein in Deutschland hätten sich bis zu 40.000 Personen gemeldet, die als ehemalige Ortskräfte Schutz brauchen, hieß es heute in Berlin unter anderem von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die große Mehrheit ist noch in Afghanistan, wo inzwischen  die Taliban die Macht übernommen  haben.

Der deutsche Innenminister Horst Seehofer wollte diese Zahlen nicht bestätigen. "Es gibt keine Prognose der Bundesregierung, weil sie auch objektiv nicht möglich ist", sagte Horst Seehofer vor der Sondersitzung der EU-Innenminister zur Lage in Afghanistan in Brüssel. Die Zahl 100.000, die ebenfalls kursierte, würde er nicht in den Mund nehmen, sagte Seehofer. "Wir sollten niemanden verunsichern, weil wir unverantwortlich irgendeine Zahl in die Diskussion werfen." Man werde versuchen, so viele Ortskräfte wie möglich aus Afghanistan herauszubekommen und aufzunehmen, versprach der Minister. Diese ehemaligen Mitarbeiter und ihre Familien erhielten eine Aufenthaltsgenehmigung und bräuchten kein Asylverfahren zu durchlaufen. Ebenso sollten besonders bedrohte Personen wie Frauenrechtlerinnen, Journalisten oder Richterinnen behandelt werden.

Horst Seehofer: Keine Unruhe mit Zahlen schaffen (Archivfoto)Bild: picture-alliance/dpa/J. Carstensen

Bei möglichen Flüchtlingen, die nicht direkt zu den Ortskräften zählen, wird die Europäische Union wohl weniger großzügig verfahren. Die EU will sich auch noch nicht darauf festlegen, wie viele schutzbedürftige Menschen in einem sogenannten "Resettlement"-Programm direkt aus Flüchtlingslagern in Pakistan oder Iran auf legalem und sicherem Weg nach Europa gebracht werden können. Dazu sei es noch zu früh, meinte die für Migration zuständige EU-Kommissarin Ylva Johannson. Eine Zielgröße gebe es auch nicht. Im September will Johannson ein Resettlement-Forum zusammen mit den USA, Kanada, Großbritannien und anderen Staaten veranstalten, wo es um konkrete Angebote gehen soll. 

Angst vor dem "Pull-Effekt"

"Ich halte es nicht für sehr klug, wenn wir hier jetzt über Zahlen reden, weil Zahlen natürlich etwas auslösen, einen Pull-Effekt auslösen. Und das wollen wir nicht", warnte Horst Seehofer, der deutsche Ressortchef. Mit "Pull-Effekt" ist gemeint, dass Menschen durch die Aussicht auf eine erfolgreiche Flucht zu dieser erst ermuntert werden. Unter Migrationsforschern ist dieser Effekt aber umstritten.

Die Ansätze gehen innerhalb der EU weit auseinander. Der österreichische Innenminister Karl Nehammer will überhaupt keine Flüchtlinge aus Afghanistan mehr aufnehmen. Seine Botschaft an die Afghaninnen und Afghanen: "Bleiben Sie, wo Sie sind. Ihnen wird in der Region geholfen." Der Außenminister von Luxemburg, Jean Asselborn, rief dagegen seine Kolleginnen und Kollegen auf, nicht wegzuschauen. "Ich bin fest überzeugt, dass die EU sich mehr einbringen kann in dieser sehr, sehr dramatischen Situation in Afghanistan, um Menschen, die in Lebensgefahr sind, aufzunehmen", mahnte der luxemburgische Außenminister, der auch für Migration zuständig ist.

Ylva Johansson: Die Fehler von 2015 vermeidenBild: John Thys/AP/picture alliance

In einer gemeinsamen Erklärung setzen sich die Innenminister dafür ein, afghanische Flüchtlinge möglichst in der Region zu halten und gleichzeitig die Außengrenzen der EU zu schützen. Das Jahr 2015, als eine Million syrische Asylbewerber nach Europa kamen, dürfe sich nicht wiederholen, war in Brüssel immer wieder zu hören. In den Jahren zuvor war die Hilfe für Anrainerstaaten Syriens und die Finanzierung der UN-Flüchtlingslager dort mangelhaft. Das dürfe sich diesmal nicht wiederholen, meinte die EU-Migrationskommissarin Ylva Johannson. Es müsse eine humanitäre Krise vermieden werden, wenn man eine Migrations-Krise vermeiden wolle. 

"Dicke Bretter bohren"

Deutschlands Innenminister Seehofer will ebenfalls stärker mit Pakistan und anderen Nachbarstaaten Afghanistans zusammenarbeiten, auch wenn Pakistan bereits erklärt hat, keine zusätzlichen Flüchtlinge aufnehmen zu wollen. In dem Land leben bereits drei bis vier Millionen Afghanen. Erklärungen gebe es jetzt viele, sagte Seehofer, auch von der EU. Man müsse die diplomatischen Bemühungen verstärken. "Die Nachbarstaaten von Afghanistan sollen stark unterstützt werden, wenn sie Flüchtlinge aufnehmen und versorgen. Da muss man dicke Bretter bohren und die Kunst der Diplomatie spielen lassen."

Die EU-Innenminister forderten die EU-Kommission, die Verwaltung in Brüssel, auf, einen Aktionsplan vorzulegen, der Hilfen für die Nachbarstaaten Afghanistans und konkrete Schritte aufzeigen soll. "Wenn wir es richtig und schnell machen, dann werden wir keine Wiederholung des Jahres 2015 erleben. Wenn wir Fehler machen und zu lange über richtige Wege diskutieren, dann wird es keine gute Entwicklung die nächsten Monate", sagte Horst Seehofer beim Sondertreffen in Brüssel voraus.

Migrationspakt der EU immer noch offen

Seit 2015 können sich die EU-Mitgliedsstaaten weder auf eine gemeinsame Asylpolitik noch auf einen Schlüssel zur Verteilung von anerkannten Asylbewerbern einigen. In der Flüchtlingspolitik sind die Mitgliedsstaaten so tief zerstritten wie bei kaum einem anderen Thema. Der für Migrationsfragen ebenfalls zuständige EU-Kommissar Margaritis Schinas glaubt, dass die Afghanistan-Krise den Europäern noch einmal deutlich zeige, dass sie sich endlich einigen müssten. "Alles, was rundherum um uns passiert, sagt uns, dass jetzt der Moment da ist, um zu einem politischen Beschluss über einen Migrations- und Asylpakt zu kommen. Das ist die Botschaft für uns." Der derzeitige Vorsitzende der Innenminister-Runde, der Slowene Ales Hojs, hat da aber kaum Ambitionen. Er sagte in Brüssel: "Ich denke nicht, dass wir in den nächsten Monaten weitere Schritte machen können. Niemand konnte ja ahnen, dass wir plötzlich ein Migrationsproblem in Afghanistan haben würden."

Der slowenische Innenminister sagte, die Diskussion habe sich auch um die Sicherheitsbedrohung gedreht, die von neuen Migranten aus Afghanistan ausgehe. Bei allen Neuankömmlingen müsse eine Sicherheitsüberprüfung durchgeführt werden. Es müsse sichergestellt werden, dass bereits einmal abgeschobene Straftäter aus Afghanistan nicht erneut den Weg in die EU suchten und fänden. Schleusern und Schleppern müsse das Handwerk gelegt werden, indem man illegale Migration unterbinde. "Es muss alles getan werden, damit Afghanistan nicht noch einmal zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird", meinte Ales Hojs. 

Afghanische Flüchtlinge in der Türkei: Mehr machen sich auf den Weg nach EuropaBild: Ali Ihsan Ozturk/DVM/ABACAPRESS/picture alliance

Der Geschäftsführer der Lobby-Organisation Pro Asyl, Günter Burkhardt kritisierte die Haltung der EU-Innenminister scharf. Die Regierungen seien dabei "einen vorgelagerten Festungsring" um Europa zu ziehen, hieß es in einer Erklärung von Pro Asyl. Statt auf sich die Aufnahme von Flüchtlingen einzurichten, ziele man auf Abwehr. "Das ist unfassbar", kritisierte Burkhardt.

In den vergangenen Monaten ist nach Angaben der EU-Kommission die Zahl der ankommenden Menschen und Asylbewerber aus Afghanistan um ein Drittel gegenüber dem Vorjahr angewachsen. Im Monat Mai, für den die aktuellsten Zahlen vorliegen, waren es rund 4600. Seit klar ist, dass die USA und die NATO ihre Truppen abziehen würden, haben sich mehr Menschen auf den Weg nach Europa gemacht. 

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union
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