EU will jeden an der Grenze durchleuchten
20. November 2015Viel Schulterklopfen, Umarmungen und Beleidsbekundungen hat der Innenminister Frankreichs, Bernard Cazeneuve, von seinen europäischen Kollegen eine Woche nach den Terroranschlägen von Paris erhalten. In Brüssel kamen die 28 Innenminister zu einer Sondersitzung zusammen, nicht nur um zu beraten, sondern angesichts der Bedrohung durch die Terrorgruppe "Islamischer Staat" zu handeln. "Wir müssen schneller agieren als bisher. Europa sollte wirklich alles tun, was es kann, um den Terror zu stoppen", sagte Cazeneuve nach der Sitzung. "Die Werkzeuge sind eigentlich alle da, wir müssen sie nur wirklich auch konsequent anwenden", mahnte der luxemburgische Innenminister Etienne Schneider als derzeitiger Ratsvorsitzender der EU. Frankreich hatte am Donnerstag den Ausnahmezustand verlängert und Sicherheitsgesetze verschärft.
Alle EU-Bürger sollen überprüft werden
Es gibt zum Beispiel seit vielen Jahren das so genannte Schengen-Informationssystem-II (SIS). Das ist eine Art Fahndungsliste für verdächtige und gesuchte Personen. Allerdings müsste dieses System von allen 26 Mitgliedsstaaten auch mit Daten gefüttert werden. Das geschieht bisher offenbar nur lückenhaft. "Das wird sich jetzt ändern", so Minister Schneider. Das hätten alle Staaten zugesagt. Da die Attentäter von Paris mit ihren europäischen Pässen offenbar entweder nach Europa eingereist sind oder innerhalb Europas weitgehend unbehelligt reisen konnten, haben die EU-Innenminister beschlossen, die Kontrollen an den Außengrenzen der Schengen-Zone zu verschärfen. Künftig sollen alle Ein- und Ausreisenden registriert und im SIS-Fahndungssystem überprüft werden, egal ob sie EU-Bürger sind oder nicht, egal ob sie ein Visum brauchen oder nicht. Das kündigte der französische Innenminister Cazeneuve vor der Presse an. "Wir können nicht warten bis sich noch eine Tragödie ereignet", so Cazeneuve.
Abkommen über Fluggast-Daten bis Jahresende
Allerdings muss zur Einführung dieser systematischen Kontrollen an den Außengrenzen der Schengen-Vertrag ergänzt werden. Er verbietet bisher solche Erfassungen für EU-Bürger. Bislang werden deren Pässe nur stichprobenartig auf Echtheit und Gültigkeit geprüft. Auch Angehörige aus Drittstaaten, die kein Visum benötigen, werden nur nach dem Zufallsprinzip durchleuchtet. "Wir müssen wissen, wer nach Europa fliegt und wer wieder zurückkommt", forderte der deutsche Innenminister Thomas de Maiziére zum wiederholten Male mit Blick auf reisende Djihadisten, sogenannte "foreign fighters". Seit Jahren würde über ein Abkommen zur frühzeitigen Erfassung von Fluggastdaten mit dem Europäischen Parlament gestritten, beklagte de Maiziere. Die Minister kamen überein, dass dieses Abkommen jetzt bis zum Jahresende vorliegen soll.
"Die Fluggastdaten sollten dann nicht nur einen Monat, wie das Parlament es will, sondern mindestens ein Jahr gespeichert werden", verlangte der französische Ressortchef Cazeneuve. Die Geheimdienste bräuchten Zeit, die Daten auszuwerten und mit ihnen zu arbeiten. Bislang werden Passagierdaten vorab nur für Flüge in die USA erfasst. Dies soll nun auch für innereuropäische Flüge eingeführt werden.
Vorerst keine Kontrollen an den Binnengrenzen
Die Niederlande trauen Griechenland nicht mehr so recht zu, dass es seine Außengrenze zur Türkei wirklich effizient schützen kann und will. Deshalb kam aus Den Haag der Vorschlag eine Kern-Schengenzone zu bilden, also den Reiseverkehr nur innerhalb der Gründungsstaaten des Schengen-Vertrages, Luxemburg, Belgien, Niederlande, Deutschland und Frankreich ohne Kontrollen zuzulassen. Bundesinnenminister de Maiziere lehnt solche Überlegungen aber als wenig praktikabel ab. Deutschland müsste dann entlang seiner östlichen und südlichen Grenzen dauerhaft wieder Passkontrollen einführen. Der freie Verkehr an den Binnengrenzen der EU soll vorerst erhalten werden, beschlossen die Innenminister. Frankreich allerdings will seine Kontrollen zu Belgien und Deutschland so lange aufrecht erhalten, "bis die Terrorgefahr gebannt ist", sagte Bernard Cazeneuve.
Geheimdienste sollen sich austauschen
Zentraler Punkt der Beratungen in Brüssel war außerdem der bessere Austausch von Geheimdienst-Informationen über mögliche Terroristen, Islamisten und so genannte Gefährder. Der EU-Kommissar für Inneres, Dimitris Avramopoulos, bestätigte, dass nur fünf von 28 EU-Staaten heute ihre Erkenntnisse zu Terroristen untereinander auf EU-Ebene austauschen. Das könne so nicht bleiben, meinte Avramopoulos unter Zustimmung der meisten Minister. Eine bessere Zusammenarbeit der Geheimdienste hatten die Minister aber auch schon unmittelbar nach den Anschlägen im Januar in Paris und bei vielen Gelegenheiten davor gelobt. Große Skepsis, ob die Mitgliedsstaaten ihre nationalen Vorbehalte jetzt tatsächlich aufgeben, ist berechtigt. "Ein einheitlicher europäischer Geheimdienst ist noch ein ferne Vision, ein Konzept", sagte EU-Kommissar Dimitri Avramopoulos.
Der innenpolitische Experte von Bündnis90/Die Grünen im Europäischen Parlament, Jan Phillip Albrecht, forderte die Geheimdienste der Mitgliedsstaaten ebenfalls auf, ihre Erkenntnisse zu teilen. "Es herrscht eine beängstigende Stille", sagte Albrecht in Brüssel. "Dabei zeigen die aktuellen Fälle, dass es vielfach um bekannte Terrorverdächtige geht und zahlreiche Anlässe für konkrete Überwachungs- und Sicherheitsmaßnahmen vorhanden waren." Immer mehr Daten ohne Anlass sammeln zu wollen, sei dagegen keine Lösung. Der Direktor der Carnegie-Stiftung in Brüssel, der Sicherheitsexperte Jan Techau, sieht im Vorfeld der Pariser Anschläge nicht so sehr ein Versagen der Geheimdienste. "Vielmehr geht es um ganz normale Polizeiarbeit", so Techau. Da habe es offenbar Kommunikationspannen zwischen den belgischen und den französischen Behörden, aber auch zwischen den deutschen und französischen gegeben. "Da muss man zunächst mal ansetzen, bevor man sich um die Geheimdienste kümmert, was auch wichtig ist."
Da capo: EU-Kommission trifft Internet-Bosse
Wie schon nach den Anschlägen auf die Redaktion von"Charlie Hebdo" und auf einen jüdischen Supermarkt im Januar beschlossen die Innenminister Programme, um die Radikalisierung von jungen Moslems einzudämmen, ein Einfrieren der Vermögen und Konten von Terrorverdächtigen und bessere Kontrollen des illegalen Waffenhandels. Anfang Dezember will sich die EU-Kommission außerdem erneut mit den Chefs der großen Internet-Konzerne treffen, um auf freiwilliger Basis die Propaganda des "Islamischen Staates" auf facebook, twitter und auf anderen Internetseiten unterdrücken zu können. Das erste Treffen dieser Art im Oktober 2014 brachte keinen durchschlagenden Erfolg.